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Der Mann auf dem Einhorn

Der Mann auf dem Einhorn

Titel: Der Mann auf dem Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kneifel
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du auch im eisigen Winter an den Gesichtern arbeitest?«
    »Deshalb schmiede ich meine Meißel. Sie sind alle von mir, die Köpfe. Aber ich bin mit der Arbeit noch lange nicht zufrieden.«
    Mythor dachte, wenn er sich den Anblick der Gesichter wieder vergegenwärtigte, mehr an Drudin von Caer als an den Lichtboten. Aber er äußerte seine Zweifel nicht, sondern suchte sich eine leere Nische in der zweiten Höhle. Dort warf er sich auf ein Strohlager und entspannte seine Muskeln. Nur langsam wich die Kälte aus seinen Knochen.
    »Wenn ich nicht ganz irre«, flüsterte Mythor nachdenklich, »ist der Silberhaarige zwar ein genialer Künstler, aber alles andere als normal. Ich werde auch hier die Wahrheit herausfinden.«
    Er schloss die Augen, und als er in einen flachen, kurzen Schlaf fiel, hörte er ununterbrochen das Klingen des Hammers auf dem Amboss. Die Spitzen der Meißel wurden geschärft, und bei den nächsten Bildhauerarbeiten würde er helfen müssen.
    *
    Torasc spürte nicht die Kälte, er hatte keine Angst und dachte nicht an Gefahr. Eine grenzenlose Kraft erfüllte ihn, ebenso das Bewusstsein dieser Stärke. Das Tier unter ihm galoppierte leichtfüßig über den festgetretenen Schnee. Von den Stadtmauern und den Türmen leuchteten Fackeln. Caer beugten sich über die Zinnen und spähten zu ihm herunter.
    Der Gegenreiter sah, wie der Nebel über ihm an einigen Stellen aufriss. Sterne funkelten auf, der Schnee schien zu leuchten. Wieder heulte der Wolf am anderen Ende der Stadt auf. Der Hufschlag des Rappen brach sich an der Mauer. Einige Caer riefen ihm lachend etwas zu; er überhörte es. Die Speere in seiner Hand waren leicht, und als er am zerstörten Tor vorbeiritt, suchte er bereits den Kampf. Er konnte es gar nicht erwarten. Und er wusste auch, dass von versteckten Stellen die Nyrngorer sein Tun beobachteten.
    Zum Schein schossen Caer mit stumpfen Pfeilen auf ihn, die Pfeile bohrten sich vor und hinter ihm in den Schnee. Das Horn des falschen Einhorns schwankte auf und ab, ganz anders als das des Tieres, das Hester ritt. Der Wolf heulte hasserfüllt, und als der Falke seinen hellen Jagdschrei ausstieß, kam die Überzeugung über Torasc.
    Irgendwo vor ihm, an der Mauer, ritt der falsche Einhornreiter. Hester war der Gegenreiter, der Betrüger. Torasc stieß ein heiseres Lachen aus und beugte sich nach vorn. Am Turm des Nordwesttores hielt er den Rappen an und ließ ihn hochsteigen. Er schüttelte die Waffen in seiner Hand und machte drohende Gebärden. Dann sprengte er weiter, dem anderen Reiter entgegen.
    Am Nordtor erblickten sie einander.
    Der graue Wolf wandte im Lauf seinen Kopf und schaute hinauf zu Hester, dann riss er den schmalen Schädel in den Nacken, legte die Ohren an und stieß ein heiseres, langgezogenes Heulen aus, das in wütendes Knurren auslief. Der weiße Falke schlug schneller mit seinen langen Schwingen, reckte den Hakenschnabel vor und schrie. Das Einhorn bäumte sich hoch auf, schüttelte seine lange Mähne und galoppierte auf Torasc zu. Der Caer ließ den Zügel los, den er bisher kaum gebraucht hatte, und nahm einen Speer aus dem Bündel.
    Fasziniert sahen die Menschen auf den Mauern und Türmen, wie die beiden Reiter in schärfstem Tempo aufeinander lospreschten. Hinter ihnen wirbelten Eisbrocken durch die Luft. Die schwachen Schatten wurden stets, wenn die Reiter ins Licht der Fackel kamen, riesengroß und bewegten sich über die verwüstete Schneedecke. Weder Hester noch Torasc sprachen oder schrien. Torasc schleuderte den ersten Speer gegen das Einhorn. Das Geschoß war unheimlich schnell und erzeugte ein summendes Geräusch.
    Das Einhorn warf sich nach rechts, schlug förmlich einen Haken, schien sich zu ducken und senkte den Kopf tief zum Boden. Die Spitze des Horns riss eine lange Spur in den Schnee. Hester duckte sich nach links über den Hals der Tieres. Der Speer heulte eine Handbreit über seinen Rücken hinweg.
    Der Wolf raste auf den zweiten Reiter los und schnappte nach den Fesseln des Pferdes. Der schwere Rappe sprang zur Seite, zeigte aber keinerlei Angst vor dem Raubtier. Torasc schlug mit den beiden Speeren nach dem grauen, wütend schnappenden und grollenden Tier, aber die langen Schneiden der Speere wischten haarscharf am Körper des Wolfes vorbei. Die Reiter schienen einander rammen zu wollen, aber wieder handelte das Einhorn drei Schritte vor dem Zusammenprall.
    Der Falke hatte seinen schützenden Platz über Hesters Kopf nicht verlassen. Seine Flügel

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