Der Mann aus dem Safe
dass du heute zu Besuch gekommen bist.«
Er scheuchte mich durch den Fernsehraum und den Hauptladen bis zur Eingangstür.
»Vergiss dein Motorrad nicht, Goldjunge.«
Er hielt mir wieder die Tür auf, während ich ungeschickt mit meinem Bike hantierte und es endlich hinausschob.
»Gut so«, ätzte er, als ich draußen auf dem Bürgersteig war. »Mach, dass du hier wegkommst, und lass dich nie wieder blicken.«
Die Tür schloss sich hinter mir, und das war’s. Ein rauschender Erfolg! Ich konnte kaum geradeaus gucken bei dem Wirbel aus Konfetti und Luftschlangen.
Ach, scheiß drauf, dachte ich. Wenn das ein Vorstellungsgespräch gewesen sein sollte, war ich froh, dass man mich nicht genommen hatte. Ich rollte das Motorrad auf die Straße und ließ es an. Dann flog ich die Grand River hinauf, felsenfest davon überzeugt, nie wieder herzukommen.
Ich fuhr gleich zum Haus der Marshs. Ging durch die Vordertür hinein, die Treppe hinauf. Klopfte bei ihr an. Entweder war sie weggegangen, oder sie wollte gerade niemanden sehen. Nicht mal mich.
Als ich kehrtmachte, sah ich sie unten stehen.
»Was machst du?«, fragte sie. »Warum bist du zurückgekommen?«
Ich stieg die Treppe hinunter.
»Wo warst du überhaupt?«
Einen Stift, dachte ich. Papier. Warum zum Teufel habe ich so was nicht immer bei mir?
»Michael, was sollst du für meinen Vater tun?«
Ich mimte Schreiben. Ich erzähl’s dir.
»Ist wahrscheinlich besser, wenn ich es nicht weiß, oder?«
Ich wollte sie an den Schultern packen. Nein, nicht packen, nur die Hände auf ihre Schultern legen, damit sie für eine Minute still war, während ich was zum Schreiben suchte. Sie schob mich weg.
»Ich hätte das gleich durchschauen sollen«, sagte sie. »Schließlich weiß ich, dass er alles tut, um seinen Willen durchzusetzen. Sieh dich an. Zuerst will er dich umbringen. Du musst nachts ins Haus einbrechen, wenn du mich sehen möchtest. Und auf einmal bist du seine rechte Hand und wirst zum Familiengrillen eingeladen … Du bist der Goldjunge.«
Schon wieder das mit dem Goldjungen. Woher kam das nur plötzlich?
»Ich bin der Preis, stimmt’s? Was es auch ist, das du für ihn tust, ich bin deine Belohnung.«
Jetzt ist es Zeit, dachte ich. Zeit zu sprechen. Mach ein Geräusch. Irgendeines. Tu es. Sofort.
»Verstehst du nicht? Er wird uns mit sich in den Abgrund reißen. Uns beide.«
Mach den Mund auf. Hier und jetzt. Lass es raus.
»Ich halte es hier nicht mehr aus. Keine Minute mehr.«
Du blöder beschissener mutierter Freak.
Sag etwas!
Sie wollte an mir vorbeistürmen. Ich packte sie an den Armen, diesmal fest.
»Lass mich los. Bitte.«
Ich nahm ihre Hand und zog sie durch die Tür vors Haus.
»Was machst du?«
Ich nahm den Helm vom Sitz des Motorrads und wollte ihn ihr aufsetzen.
»Was soll das? Wo kommt dieses Motorrad her?«
Ich hielt ihr den Helm hin und wartete, dass sie ihn selbst aufsetzte.
Sie rührte sich nicht.
Da warf ich den Helm ins Gras und stieg auf. Startete den Motor, rutschte auf dem Sitz nach vorn und wartete. Sah mich nicht mal nach ihr um. Wartete nur.
Endlich stieg sie hinten auf. Ich spürte ihre Arme um meine Mitte. Ja, dachte ich. Wenn das das einzig schöne Erlebnis heute ist … dann nehme ich es gern. Diesen Augenblick.
»Bring mich von hier weg«, hörte ich sie sagen. »Ist mir egal, wohin. Bring mich nur weg.«
Mir war klar, dass das noch nicht ging. Nicht ganz. Nicht endgültig. Aber für einen Tag – ein paar gestohlene Stunden – ja. Wir konnten von hier abhauen, so weit wir mit dem Bike kamen.
Ich legte den Gang ein, und wir brausten die Straße hinunter.
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Kapitel zwanzig
Los Angeles und Arizona
Juli, August, September 2000
A ls der Sommer nach Südkalifornien kam, hingen alle wieder in ihrer Warteschleife. Julian und Ramona verkauften Spitzenweine und sahen sich nach dem nächsten Opfer um. Gunnar stach seine Tattoos und nörgelte, dass die beiden zu langsam und zu pingelig seien. Lucy hatte das Malen inzwischen aufgegeben und angefangen, Gitarre zu lernen. Dann, nach ein, zwei Wochen Üben, hielt sie sich immer häufiger bei Gunnar in seinem Tattoo-Studio auf, weil sie beschlossen hatte, das Handwerk nun doch selbst zu lernen. So kam es, dass ich tagsüber öfter allein war. Ich drehte entweder an meinen Schlössern oder zeichnete. Oder ich stieg aufs Motorrad und fuhr in der Stadt herum.
Dann bekam ich wieder einen Anruf auf dem grünen Pager. Das letzte Mal hatte jemand nach dem
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