Der Mann aus dem Safe
Ich drehte mich um und ging in den Schnapsladen. Onkel Lito stand am Eingang und blickte durch die Scheibe. Sein Gesicht war knallrot.
»Wer zum Teufel war das?«, fragte er. »Und wieso verprügelst du neuerdings Leute?«
Ich ging in den Lagerraum. Den Raum, in dem ich als Kind so viele Stunden zugebracht hatte. In dem ich zum ersten Mal ein Schloss auseinandergenommen und herausgefunden hatte, wie es funktionierte. Ich setzte mich auf meinen alten Stuhl und holte das Safeschloss heraus, das der Ghost mir gegeben hatte. Mein Herz raste. Von fern hörte ich eine Sirene.
Chaos. Lärm. Die schreienden Stimmen in meinem Kopf.
Ich drehte die Nummernscheibe nach rechts. Fühlte, was im Innern vor sich ging. Hörte es. Auf irgendeiner Ebene meines Bewusstseins konnte ich es sogar sehen. Ich drehte zurück nach links. Dann wieder nach rechts.
Die Sirenen wurden lauter.
Ich brauche das. Ich brauche das.
Der Kummer, die Trauer, die Einsamkeit, der Schmerz, der achtjährige Junge, der noch in mir wohnt, der es als Einziger schaffen kann.
Ich konnte es fühlen. Ich konnte auf einmal den leisesten Kontakt von Metallteilchen in diesem Schloss spüren.
Na und? Scheiß drauf, dachte ich. Das zählt nicht. Ich brauche das Echte.
Ich brauche das Echte, weil ich weiß, was dort auf mich wartet.
Also ging ich wieder raus und sprang aufs Motorrad. Ein Polizeiwagen stand jetzt am Unfallort, und ein zweiter fuhr gerade heran. Ich gab Gas und sauste davon. Fuhr zu schnell, schlängelte mich durch den Autoverkehr, schaffte es irgendwie, mir auf dem Weg die Grand River hinunter nicht den Hals zu brechen. Dieselbe Strecke, die ich in letzter Zeit jeden Tag gefahren war. Ich wusste, diesmal würde es anders sein.
Ich wusste es einfach.
Ich erreichte den Laden. Parkte an der Straße. Soll doch jemand das Motorrad klauen, dachte ich, ist mir egal. Der Ghost erschien in der Tür, offenbar gerade auf dem Weg nach draußen, Feierabend für heute, aber dann sah er mich. Dieser Mann, der sich allem Anschein nach nie einen Deut für mich interessiert hatte, hielt mich nun an und fragte, was zum Teufel mit mir los sei. Warum ich diesen irren Blick draufhätte. Ich schob ihn beiseite und lief durch den Laden, trat in der Dunkelheit Sachen aus dem Weg.
Ich ging zu den Safes. Setzte mich auf den Bürostuhl und rollte ihn zu dem Modell namens Erato. Dem Liebling des Ghost. Ich lehnte meinen Kopf an ihr kühles Gesicht und fühlte mein Herz in meiner Brust klopfen.
Still jetzt. Alle still. Ich muss lauschen.
Still, still, still.
Da hörte ich es. Dieses Geräusch, wie wenn jemand atmet. Regelmäßig, aber flach.
Ein paarmal drehen. Auf 0 stellen. Zum Kontaktbereich gehen.
Das Geräusch kam aus dem Innern des Safes.
Auf 3 stellen. Zum Kontaktbereich gehen.
Da war jemand drin. Er erstickte.
Auf 6 stellen. Zum Kontaktbereich gehen.
Wenn ich den Safe nicht rechtzeitig aufbekam …
Auf 9 stellen. Zum Kontaktbereich gehen.
Würde er sterben.
Auf 12 stellen.
Der Sauerstoff würde ihm ausgehen.
Zum Kontakt …
Er würde in dem Safe sterben und für immer dort eingesperrt sein.
… bereich gehen. Hier fühlt es sich anders an. Kürzer.
Ich drehte auf 15 . Kontaktbereich wieder normal.
18 . Normal.
21 . Normal.
24 . Aha, da ist es wieder.
Jetzt habe ich 12 , ich habe 24 .
Du musst dich beeilen. Du musst ihn sofort da rausholen.
27 . 30 . Ich machte weiter in Dreierschritten. Testete, fühlte. Ich arbeitete mich die Zahlenreihe hinauf, erhielt meine drei groben Zahlen, ging zurück auf Anfang, überprüfte die Bereiche, bis ich 11 , 25 , 71 hatte.
Ich setzte die Nummernscheibe zurück und begann die Kombinationen durchzuprobieren. Der Ghost tauchte hinter mir auf.
»Langsam«, sagte er. »Du brauchst dich nicht zu hetzen. Hauptsache, du kriegst es richtig hin.«
Ich drehte weiter, schneller und schneller.
»Entspann dich, ja? An der Geschwindigkeit kannst du später noch arbeiten.«
Ich höre dich nicht, dachte ich. Du bist gar nicht da. Es gibt nur mich und diesen großen Stahlkasten.
Der Sauerstoff ist aus. Er kann das nicht überleben.
Der Schweiß strömte mir über den Rücken. Ich drehte dreimal linksherum auf 71 , zweimal rechtsherum auf 25 , dann wieder linksherum, bis die Scheibe auf 11 zum Stehen kam. Als ich den Griff packte, merkte ich es schon.
Es könnte zu spät sein. Er könnte bereits tot sein da drin.
Neun Jahre, ein Monat und achtundzwanzig Tage. So viel Zeit war seit jenem Tag vergangen.
Neun Jahre,
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