Der Mann aus dem Safe
Sie saß oben in ihrem Zimmer. Sobald ich sie sah, wusste ich, dass etwas im Busch war.
»Wie war’s auf der Arbeit heute?«, fragte sie.
Ich zuckte die Achseln. Ganz okay.
»Komisch, ich bin nämlich beim Fitnesscenter vorbeigegangen, aber du warst nicht da.«
Oje.
»Niemand dort hatte auch nur von dir gehört.«
Ich setzte mich aufs Bett. Sie drehte ihren Schreibtischstuhl zu mir herum.
»Was machst du jeden Tag für meinen Vater?«
Das ist gar nicht gut, dachte ich. Was zum Teufel soll ich ihr jetzt sagen?
»Sag mir die Wahrheit.«
Sie drückte mir Schreibblock und Stift in die Hand und setzte sich neben mich aufs Bett. Wartete, dass ich anfing zu schreiben.
Es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe,
schrieb ich.
Dann strich ich das wieder aus und ersetzte es durch etwas anderes.
Es tut mir leid, dass ich es zugelassen habe, dass dein Vater dich anlügt.
»Erzähl’s mir«, sagte sie. »Ich will wissen, zu was er dich zwingt.«
Er zwingt mich zu nichts.
»Michael … Sag mir, was du machst.«
Ich dachte kurz nach. Dann schrieb ich das Einzige, was möglich war.
Ich kann es dir nicht sagen.
»Warum nicht?«
Ich versuche, dich zu beschützen.
»Schwachsinn. Ist es was Illegales?«
Auch darüber musste ich erst mal nachdenken.
Bis jetzt nicht.
»Bis jetzt? Was soll das heißen?«
Ich erzähle es dir irgendwann. Sobald es geht. Versprochen.
»Was es auch ist, es ist jedenfalls der Grund, weshalb diese Männer nicht mehr zu meinem Vater kommen. Stimmt das?«
Ich nickte.
»Es ist der Grund, weshalb er mich hat nach Hause kommen lassen.«
Ich nickte wieder.
Sie nahm mir den Block ab.
»Wie soll ich bloß damit fertig werden? Ich bin so wütend auf ihn, weil er uns alle in diesen Sumpf mit hineingezogen hat. Ich bin wütend auf
dich,
weil du auch noch mitmachst bei der bescheuerten Idee, die er da wieder ausgebrütet hat.«
Sie stand auf und legte den Block auf ihren Schreibtisch. Dann stellte sie sich vor mich hin und sah zu mir herunter.
»Und ich bin wütend auf mich selbst, weil ich jeden Augenblick mit dir zusammen sein möchte. Trotz allem.«
Sie legte mir eine Hand an die Wange.
»Was soll ich denn nur machen?«
Eine Idee hatte ich. Ich zog sie zu mir herunter aufs Bett und zeigte es ihr.
Meine Trips runter zum Altwarenladen … die hielt ich weiter vor ihr geheim. Es war allerdings ein komisches Gefühl, ohne den Ghost dort zu sein. Nur ich und die Safes. Ich und die Ladys. Beinahe, als würde ich Amelia mit diesen acht eisernen Geliebten betrügen.
Banks sah ich nicht wieder. Entweder beobachtete er den Laden nicht mehr, oder er war besser darin geworden, sich zu tarnen. Ich hielt nach ihm Ausschau und schloss dann mit dem Schlüssel auf, den der Ghost mir gegeben hatte. Ich stolperte im Dunkeln über das Gerümpel und verbrachte ein paar Stunden mit Drehen im Hinterhof. Dabei bildete ich mir immer wieder ein, Schritte zu hören.
Die letzten Sommertage gingen dahin. Dann fing die Schule wieder an. Ich war jetzt in der Abschlussklasse der Milford High, wie Sie sich erinnern, und Amelia in der Abschlussklasse von Lakeland. Zusammen mit dem guten alten Zeke. Der erste Schultag war hart. Griffin war längst in Wisconsin, und sogar mein alter Kunstlehrer hatte sich aus dem Staub gemacht. Er war krankgeschrieben wegen chronischem Erschöpfungssyndrom und würde den Unterricht erst Gott weiß wann wieder aufnehmen. Deshalb hatten wir einen langfristigen Vertretungslehrer, einen Ex-Hippie um die sechzig mit langen grauen Haaren bis zum Rücken. Der sich viel mehr für dreidimensionale Kunstformen interessierte als für »Flachländer-Kunst«, wie er es nannte.
Es sah also schon zu Anfang nach einem sehr langen Jahr aus.
Als ich nachmittags nach Hause kam, nahm ich den Helm ab und legte ihn auf den Sitz. Der Motor und der Wind brausten noch in meinen Ohren. Beinahe wäre ich weggegangen, ohne das Piepen zu hören.
Ich öffnete das Staufach, nahm den Karton heraus und hob den Deckel ab. Schob die Pager darin hin und her, bis ich den betreffenden fand. Es war der rote.
Geh zum Park, dachte ich. Geh runter zum Fluss und wirf den ganzen Karton dort rein. Sieh zu, wie er davontreibt.
Das war das Erste, was mir durch den Kopf schoss.
Ich ging ins Haus und wählte die Nummer. Jemand meldete sich, eine Stimme, die ich schon einmal gehört hatte. Er sagte weder hallo noch »Wer ist da?« oder »Kann ich Ihnen helfen?«, sondern nannte mir bloß eine Adresse, Beaubien Street
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