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Der Mann aus dem Safe

Der Mann aus dem Safe

Titel: Der Mann aus dem Safe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Hamilton
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stand noch ein Weilchen da und sah ihm nach. Wartete auf das große Zack nach dem Zick. Es kam nicht. Also warf ich den Spaten in die Schubkarre und ging ums Haus herum zu meinem Auto.
    Es war leer. Kein Umschlag.
    Sofort spulte ich ein paar mögliche Erklärungen im Kopf ab. Amelia war zur Vernunft gekommen. Oder Zeke hatte sie zur Schnecke gemacht. Oder, verdammter Mist, er war hinter unser kleines Spiel gekommen und hatte den Umschlag aus dem Auto geklaut.
    Mir wollte sich gerade der Magen umdrehen bei dieser Möglichkeit, als ich hinter mir etwas hörte. Eine Tür? Nein, ein Fenster. Ich hob den Kopf und sah den braunen Umschlag durch die Luft segeln. Das Fenster war schon wieder zu, bevor ich jemanden entdeckte.
    Ich hob den Umschlag vom Rasen auf, stieg ins Auto und fuhr hundert Meter die Straße runter. Mr. Marshs komisches Verhalten hatte ich schon fast vergessen, denn das hier war zehntausend Mal wichtiger. Ich hielt am Rand und sah hinein. Erste Seite von mir, zweite von ihr, dritte von mir …
    Seite vier.
    Also, ich wusste ja, dass sie sich während der ersten Stunde mit Zeke hatte herumschlagen müssen und deshalb nur wenig Zeit für ihre Bilder gehabt hatte. Doch hier waren sie. Ich ging mehr oder weniger davon aus, dass sie dort weitermachen würde, wo ich aufgehört hatte, sie am Rand der Grube, nachdem ich meine ersten Worte geäußert hatte, aber es war eine ganz andere Szene. Das erste Panel zeigte das Kleeblatt draußen unter dem Schirm. Sollte das heute sein? In einiger Entfernung war ich beim Schuften zu sehen, während Zeke und die anderen beiden Künstlertypen mich lachend beobachteten. Man sah nur ihre Hinterköpfe, Amelias Profil im Vordergrund. Ihre Gedankenblase … »Ihr Trottel merkt das noch nicht mal. Er hat mehr Talent als ihr alle zusammen. Und obendrein ist er irgendwie schön.«
    Heilige Scheiße, dachte ich. Heilige verfluchte, verdammte Scheiße.
    Zweites Panel. Amelia, die aufsteht, Zeke, der sie verblüfft anglotzt. Allein, wie sie ihn auf diesem Bild darstellte, als wäre er der erbärmlichste, lächerlichste Kerl, der je gelebt hatte. Das ließ mein Herz erst recht vor Freude hüpfen.
    Drittes Panel. Im Haus, Amelia mit dem Rücken zu Zeke. Sie sagt: »Hau ab. Ich will dich nicht mehr sehen.«
    Viertes Panel. »Später …« in der oberen linken Ecke. Amelia in ihrem Zimmer, auf dem Bett sitzend. Die Gedankenblase: »Er war hier, hier in meinem Zimmer. Zwei Nächte hintereinander.«
    Ich schluckte schwer und las weiter.
    Fünftes Panel. Amelias Silhouette auf dem Bett mit viel Platz für einen längeren Gedanken darunter. »Total uncool so was, sich mitten in der Nacht bei mir einzuschleichen. Absolut inakzeptabel uncool. Und letzte Nacht, als er dann nicht kam …«
    Sechstes Panel. Sichtweise von außen durch das Fenster, Amelia drinnen, die hinausblickt und laut sagt: »Also, das war verdammt gemein.«
     
    Ein Blatt Papier. Zellstoff, gebleicht und zu einer dünnen Schicht gepresst. Markiert mit abgeriebenem Graphit von einem Bleistift. Das war es, mehr nicht. Sie verstehen.
    Ich hielt dieses Blatt vielleicht fünf Minuten lang in der Hand, während ich in dem zerdellten alten Auto meines Onkels an einem Straßenrand bei Milford, Michigan, saß. An einem heißen Sommernachmittag, der in einen heißen Abend überging. Als ich endlich wieder normal atmen konnte, steckte ich sämtliche Seiten zurück in den Umschlag. Ich rief mir in Erinnerung, wie man ein Automobil bediente, legte den Gang ein, trat aufs Gaspedal, steuerte es nach Hause.
    Drinnen holte ich die Seiten wieder heraus und breitete sie auf meinem Tisch aus. Dieses einsame, nach Zigarrenrauch stinkende Zimmer an der Rückseite dieses alten Hauses. Das Wunder, dass diese Blätter überhaupt in solch tristen vier Wänden existieren konnten.
    Ich setzte mich vor ein leeres Blatt. Wäre ich in der Lage gewesen, laut zu lachen, hätte ich es getan. Was um alles in der Welt sollte ich bloß als Antwort darauf zeichnen? Sechs Panels, gefüllt mit was?
    Ich probierte ein paar Ideen aus. Was zwischen uns passieren könnte, wenn ich wieder bei ihr einbrach. Wenn ich mitten in der Nacht in ihr Zimmer schlüpfte. Ich knüllte jede Seite zusammen und warf sie auf den Boden. Jede einzelne.
    Irgendwann legte ich den Kopf auf die Arme. Ich musste mal kurz die Augen zumachen. Nur für eine Minute. Als ich in einen Traum hinüberglitt, hörte ich Wasser ins Zimmer strömen. Es rann die Wände hinunter und drang durchs

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