Der Mann aus Israel (German Edition)
ich. Tobler, Tobler,
wie fremd das klingt, denke ich entgeistert, wie aus einer anderen Welt.
„Dann beeilen Sie sich mal. Sie sind die letzte. Alle
Passagiere sitzen schon im Flugzeug.“ Die uniformierte Frau packt mich am Arm
und zerrt mich die Treppe hinunter zum Bus. Er ist leer. Ich bin wirklich die
letzte. Ich könnte noch schnell hinausspringen, denke ich. Der Gedanke
überwältigt mich. Ich kann über das Rollfeld laufen, übers Gitter klettern und
in Raffis Armen landen. Ja. Mein Griff an der Haltestange lockert sich. Ich
will nicht zurück in die Schweiz, ich will nicht Frau Tobler sein, ich will
nicht, nein, nein, ich will nicht. Nie mehr.
Ich bücke mich, um meine kleine Tasche zu greifen. In diesem
Moment schließt sich die Türe des Busses.
„ Get out, lady.“ ruft der Fahrer, als wir am Flugzeug
angekommen sind, und ich bewegungslos im Bus stehenbleibe. Ich wanke hinaus. An
der Treppe steht ein Steward.
„Na, endlich.“ sagt er vorwurfsvoll und nimmt mich beim Arm,
um mich die Gangway hinaufzuschieben. Ich merke, dass er mich von der Seite
mustert.
„Ist Ihnen nicht gut?“ fragt er mich plötzlich besorgt.
„Ja“, antworte ich. „mir ist nicht gut.“
„Das tut mir leid.“ sagt der blonde Mann, und ich denke, Dir
muss nichts leidtun, Du hast mir nichts getan. Du nicht.
Behutsam begleitet er mich zu meinem Sitz, steckt mir ein
Kissen in den Rücken, zurrt den Sicherheitsgurt fest.
„Nur ein Momentchen“, sagt er freundlich. „ich komme gleich
wieder.“
Als er zurückkommt, hält er ein Glas Champagner in der Hand.
„Hier trinken Sie das zum Abschied.“ Er lächelt mir
aufmunternd zu. „Das wird Ihren guttun. Wissen Sie“, sagt er vertraulich. „es
ist sicherlich nur die Angst vor dem Abflug.“
Ich starre ihn an. Angst. Abflug. Abschied. Langsam begreife
ich. Es ist also wahr. Ich sitze im Flugzeug. In vier Stunden werde ich in
Frankfurt sein, und eine Stunde später in Basel, wo Lucius auf mich wartet.
Lucius.
Ich habe sein Gesicht vergessen. Ach, was macht das schon,
denke ich traurig, es ist sowieso alles egal. Ich werde von nun an in jedem
Gesicht immer nur Raffael sehen, sein Lächeln, seine goldenen Haare, das tiefe,
dunkle Grün seiner schimmernden Augen. Das Bild dieses Mannes wird mich nie
wieder loslassen. Das weiß ich. Jede Minute wird mit ihm anfangen und
mit ihm aufhören . Für immer. Jetzt weiß auch ich, was diese Worte bedeuten
können.
Das Flugzeug rollt zur Startbahn. Der Kapitän gibt Gas, wir
jagen über die Piste. Ich kralle mich an meinem Sitz fest, stemme meine Füße
gegen die Schnelligkeit, ich will nicht weg von hier, ich will hier bleiben,
schreit mein Herz mit tausend Stimmen. Wir heben ab.
Das Flugzeug dreht seine Schleifen über Tel Aviv, die Stadt
liegt unter uns. Ich kann einzelne Häuser erkennen. Dann wendet sich das
Flugzeug abrupt in Richtung Mittelmeer. Ich sehe unter uns den Küstenstreifen
auftauchen. Wie mit einem dicken schwarzen Pinselstrich gezeichnet, markiert er
die Grenze Israels. Danach kommt nur noch das Blau des Meeres. In mir verstummt
alles Leben. Es ist aus. Endgültig. Ich werde nie wieder in dieses Land
zurückkehren.
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