Der Mann aus London
einer Sauftour.
»Laß mich in Frieden!« schnauzte er seine Frau an, die Anstalten machte, hinter ihm die Treppe hinaufzusteigen.
Er hatte keine Lust, sie um sein Bett herumfuhrwerken zu sehen und mitanzuhören, wie sie sich abwechselnd in guten Ratschlägen und Klagen erging.
»Willst du nicht mal einen Grog?«
Statt einer Antwort versetzte er der Tür einen Fußtritt. Das Tuten des Nebelhorns dröhnte ihm in den Ohren. Im Zimmer war es kalt. Den einen Schuh warf er nach rechts, den anderen nach links, und die Hose landete über einer Stuhllehne. Dann blieb er im Hemd einen Augenblick still auf dem Bettrand sitzen und betrachtete seine Füße.
Würden diese ganzen Gedanken ihn jetzt endlich in Ruhe lassen? War es nicht schon genug mit heute nacht?
Geduckt, wie einer, der einen üblen Streich vorhat, ging er barfuß zum Fenster und riß es so abrupt und ungestüm auf, daß der Holzrahmen krachte.
Draußen war es neblig. Maloin, der mit der Plötzlichkeit eines Kastenteufels im Fensterrahmen erschienen war, konnte trotzdem in einiger Entfernung die Gestalt des Mannes erkennen.
Es bereitete ihm Genugtuung, dem anderen einen Schrecken eingejagt zu haben. Denn erschreckt hatte er ihn, als sein Oberkörper so urplötzlich über der Straße aufgetaucht war, das stand fest. Und der Beweis wurde ihm auch sofort geliefert: Der Engländer rannte den Fußweg zur Stadt hinunter, ohne sich auch nur einmal umzudrehen.
Maloin legte sich ins Bett, wobei er Selbstgespräche führte wie in seiner Glaskabine.
»Schlafen muß ich, schlafen … Sonst halte ich nicht durch!«
Was für eine Nacht er hinter sich hatte! Es hatte sich nichts Welterschütterndes ereignet, nichts, was zu berichten sich überhaupt gelohnt hätte. Die Nacht davor war tausendmal dramatischer gewesen, da war schließlich wenige Meter von ihm entfernt ein Mensch umgebracht worden. Und doch hatte jene Nacht keinerlei Eindruck bei ihm hinterlassen.
Vielleicht hing das alles damit zusammen, daß er den Mörder inzwischen kannte? Nicht, daß er mit ihm gesprochen hätte! Er kannte weder seinen Namen, noch seinen Beruf; er wußte nicht, warum er den anderen umgebracht und ob er das Geld gestohlen oder gefälscht hatte. Er wußte rein gar nichts. Aber er kannte ihn!
Er kannte ihn so gut, daß sein Gesicht ihm bereits jetzt vertrauter war als etwa das seines Schwagers, obwohl er den seit fünfzehn Jahren einmal im Monat sah.
Bis Mitternacht hatten die Kais leer und verlassen dagelegen. Die Ankunft des Schiffs aus Newhaven hatte sich abgespielt wie sonst auch. Es war sogar eher ruhiger gewesen, da sehr wenig Passagiere angekommen waren. Zu diesem Zeitpunkt war die Nacht noch klar gewesen, aber es hatte fast so ausgesehen, als habe das Schiff den Nebel mitgebracht. Der Dunst hatte sich zuerst über die Wasseroberfläche gelegt und war dann im weißen Mondlicht langsam höhergestiegen.
Als Maloin dann nichts mehr zu tun gehabt hatte, da hatte er den kleinen gußeisernen Ofen derart aufgeheizt, daß er rotglühend geworden war. Jetzt konnte er das Fenster weit öffnen. Er machte das relativ oft; wenn die Fenster nämlich geschlossen waren, hatte Maloin das Gefühl, von der Umwelt abgeschnitten und taub zu sein. Bei geöffnetem Fenster hingegen hörte er das leiseste Geräusch und wußte sofort, was los war, auch wenn er gar nicht darauf achtete. »Schau an, die ›Francette‹ läuft aus«, konnte er vor sich hinmurmeln. »Bei dem Wetter machen sie sicher einen guten Fang.« Oder aber: »Ach, da kommt ja Monsieur Babu mit seinem Wagen nach Hause.«
Maloin kannte diesen Monsieur Babu eigentlich gar nicht. Er wußte nur, daß er Reeder war, oft nach Le Havre hinüberfuhr und spätabends im Wagen zurückkam. Da sein Haus in der Nähe des Hafenbahnhofs lag, hörte Maloin den Wagenmotor. Das war alles.
Im hinteren Teil des englischen Schiffes wurde Pökelfleisch ausgeladen, aber das Quietschen des Krans hinderte Maloin nicht, noch andere Geräusche wahrzunehmen, die schwächer waren und von weiter weg kamen. Gegen eins hörte er folglich auch ein Plätschern auf der anderen Seite des Hafenbeckens – dort, wo Baptiste immer sein Boot festmachte.
Er wußte sofort, was los war. Er war sich nur nicht klar darüber, ob Baptiste mit dem Fremden zusammen im Boot saß oder nicht. Der Nebel war noch licht, und als das Boot in der Mitte des Hafenbeckens angelangt war, konnte man erkennen, daß nur ein Mann darin saß: der Engländer.
Er war kein Seemann, denn er konnte
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