Der Mann aus London
wußte, daß die »Grâce-de-Dieu« durchs Becken zurückfuhr, fühlte er sich ganz elend und leer.
Zu sehen war praktisch nichts mehr. Der Rumpf des großen englischen Schiffes war nur noch als Schatten im Nebel zu ahnen. Lediglich die Geräusche gaben Aufschluß über das, was draußen vorging: das Klirren der Kette, als der Mann aus London das Boot festmachte, und hinterher seine Schritte am Kai entlang, dann auf der Eisenbrücke und später wieder auf dem Kai.
»Er kommt!« sagte Maloin.
Wenn der Engländer den Weg in die Stadt eingeschlagen hätte, dann hätte er beim Café Suisse um die Ecke biegen müssen, und in diesem Fall wären seine Schritte verhallt. Aber nein, sie kamen näher und hielten unterhalb des Stellwerkshäuschens an.
Maloin setzte sich vorsichtshalber hin. Da die Glaskabine erleuchtet war, konnte man eventuell seine Umrisse erkennen und mit einem Revolver auf ihn zielen.
Er hatte kaum an dem Tisch mit der Auflage aus eingerissenem Löschpapier Platz genommen, da spürte er, daß die eiserne Leiter vibrierte. Jemand hatte die Hände an die Leiter gelegt und den Fuß auf die erste Sprosse gesetzt.
Maloin hielt den Atem an. Er hatte keine Waffe. Und außerdem – er wußte nicht warum, aber es war nun mal so –, außerdem hätte er um nichts in der Welt auf den Mann aus London geschossen.
»Wenn er nicht raufkommt, spende ich fünfhundert Francs für die Kapelle«, nahm er sich vor.
Für die Kapelle, die oben auf der Steilküste nicht weit von seinem Haus stand. Sobald ein Schiff nicht rechtzeitig zurückkam, pilgerten die Frauen der Seeleute und Fischer zu dieser Kapelle, um dort ihre Gebete zu verrichten.
»Ich spende sie, sobald ich die Scheine eingetauscht habe«, verbesserte er sich dann, da ihm plötzlich eingefallen war, daß er nicht fünfhundert Francs vom Monatsbudget abzweigen konnte, ohne daß es seiner Frau auffiel.
Der Engländer unten konnte sich nicht schlüssig werden. Das war auch nicht weiter verwunderlich. Vielleicht hatte er von jemand erfahren, daß der Mann, dem er am Tag dreimal begegnet war, der Rangiermeister von der Nachtschicht war. Oder war er Maloin heimlich gefolgt? Eventuell sogar auf die Idee gekommen, daß der Koffer schon geborgen war?
Beide waren sie da und warteten. Sie waren nur durch zweiunddreißig Sprossen voneinander getrennt, und ihre Gedanken kreisten um den gleichen Gegenstand. Und doch wußte keiner vom anderen, was er dachte und wieviel er wußte.
»Wenn er raufkommt, geb ich ihm den Koffer zurück.«
Der Mann war zwei Sprossen heraufgestiegen.
»Er wird mir für meine Mühe schon einen Anteil geben …«
Maloin hätte am liebsten laut losgeschrien. Und das, obwohl er kräftig war. Er hatte sich in der Kneipe schon mehrmals kurzentschlossen an einer Schlägerei beteiligt.
Das Gräßlichste war die Vorstellung, das hagere und finstere Gesicht des Clowns jeden Moment hier oben auf der Leiter auftauchen zu sehen.
Nein! Der andere hatte die Leiter losgelassen. Er machte ein paar Schritte, und man hörte den Kies unter seinen Sohlen knirschen.
Hatte er noch mehr Angst als Maloin? Oder hatte ihn nur das Läutzeichen erschreckt, das weitere Waggons meldete?
Maloin betätigte geräuschvoll seine Hebel, und das Bewußtsein, mit einem Handgriff weit weg von hier das Umklappen einer Weiche zu bewerkstelligen, gab ihm eine nie gekannte Genugtuung.
In den Kneipen um den Fischmarkt herum wurde es hell. Die Nacht ging ihrem Ende entgegen; bis in einer Stunde dämmerte es. Eine ganze Stunde, während der Maloin nicht die leiseste Ahnung hatte, was der andere trieb: Er war verschwunden, hatte sich in dem Nebel aufgelöst, der immer milchiger wurde. Und die Geräusche waren die gewohnten Geräusche aus dem Hafen und der Stadt.
Um Zeit totzuschlagen, verfolgte Maloin das Einlaufen von zwei Fischkuttern, die fast keine Sicht mehr hatten und im Schneckentempo und mit unablässigem Tuten näherkamen. Als sie die Mole passiert hatten, konnte man sogar die Stimmen der über den Bug gebeugten Ausguckposten hören.
Maloin stopfte sich die erste Pfeife und goß sich ein Gläschen Schnaps ein. Vom Schnaps seines Kollegen wohlgemerkt, der seine Flasche neben dem Ofen vergessen hatte, genauso, wie Maloin beinahe seinen Schlüssel auf dem Tisch vergessen hätte.
Der Tag mit all seinem geschäftigen Getriebe hatte sich in Gang gesetzt: das Läuten vom Marktplatz her, das Eintreffen der Pferdefuhrwerke und Lieferwagen, das Ausladen der Stapel knisternder
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