Der Mann aus London
Besitzerin, Madame Dupré, war eine dicke, fröhliche Frau, der es keine Mühe machte, zu ihren Gästen liebenswürdig zu sein.
»Einen Whisky, Monsieur Brown?« fragte Germain und hielt schon die Flasche in der Hand.
Der Mann aus London hatte sich in einem der Ledersessel niedergelassen und der Schluß lag nahe, daß er nichts zu tun hatte. Er starrte leer vor sich hin, und falls er doch irgendwelchen Gedanken nachhing, war ihm das jedenfalls nicht anzusehen.
Die Hotelbesitzerin fand ihn vornehm – einmal, weil er groß und schlank war, und zum anderen, weil er wenig redete und überhaupt nie lachte.
»Haben Sie vor, länger bei uns zu bleiben, Monsieur Brown?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht …«
»Wenn Sie Lust haben auf ein besonderes Gericht, dann sagen Sie es nur. Jetzt im Winter hat mein Mann genügend Zeit …«
Monsieur Brown deutete ein zustimmendes Nicken an.
»Wann stehen Sie für gewöhnlich auf, Monsieur Brown? Natürlich bringen wir Ihnen das Frühstück aufs Zimmer.«
Er verzog nur höflich den Mund, trank seinen Whisky, schraubte sich seufzend in die Höhe und schob seine lange Gestalt durch die Halle in den Salon, wo er sich wieder in einen Sessel sinken ließ.
»Germain! Machen Sie drüben das Licht an, ja?«
Monsieur Brown starrte wieder traurig vor sich hin. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß er gerade noch ein britisches Pfund in der Tasche hatte, als er später ganz allein an einem der Tische im Speisesaal Platz nahm, nicht weit von zwei Handelsvertretern entfernt.
Maloin fiel beim Abendessen noch nicht einmal auf, daß sein Sohn die Ellbogen aufstützte.
»Wenn du mich fragst«, kommentierte seine Frau, »du brütest ’ne ganz schöne Grippe aus.«
»Blödes Geschwätz«, knurrte er.
Er nahm seine Henkelkanne mit Kaffee und die belegten Brote, gab beiden, Frau und Kind, einen Kuß auf die Stirn und setzte seine Mütze auf.
Madame Maloin wäre sehr erstaunt gewesen, wenn sie erfahren hätte, daß ihr Mann sich fürchtete. Und obendrein, daß er sich vor der Dunkelheit fürchtete!
Der abschüssige Fußweg zum Kai hinunter war nicht beleuchtet. Er stieg so rasch ab, daß er um ein Haar ins Rutschen gekommen wäre. Gleichzeitig ging ihm die Idee seiner Frau durch den Kopf und er fand, sie sei vielleicht gar nicht so schlecht. Er brauchte doch nur Grippe zu bekommen! Dann würde er mindestens eine Woche lang vom Dienst freigestellt.
Die Lichter am Kai spiegelten sich im Hafenbecken wider, wo Baptiste mit der »Grâce-de-Dieu« auf die Mole zufuhr, um dort seine Angeln und Reusen auszulegen.
»Hallo, Maloin.«
Die Stimme stieg aus der feuchten Dunkelheit hoch, in der das kleine Licht des Bootes zitternd weiterglitt, und dieses Licht erschien weit entfernt, während es tatsächlich doch ganz nahe war.
»Hallo, Baptiste.«
Möglich, daß Maloin in besserer Stimmung gewesen wäre, wenn er genügend geschlafen hätte. Im Vorübergehen warf er einen Blick ins Café Suisse, aber sein Engländer war nicht da. Er kam verdrossen und mit zwei Minuten Verspätung in der Stellwerkskabine an und nahm seinen Platz ein, ohne mit seinem Kollegen ein Wort zu wechseln.
Das Moulin-Rouge war hell erleuchtet. Die Musiker der Band trafen ein.
Maloin setzte sich an den Ofen und betrachtete seine Schalthebel.
3
Als er am nächsten Morgen schlurfend die Küche betrat, war seine Frau mit ihrem Urteil fertig, ehe sie ihn überhaupt angesehen hatte.
»Da siehst du’s«, sagte sie. »Du hast eine Grippe ausgebrütet. Wer hat nun Recht gehabt?«
Sie hatte keineswegs Recht, er hatte ja nicht die Grippe, aber ihre Reaktion bewies Maloin, daß er krank wirkte. Tatsächlich hatte seine Frau einen besonderen Riecher für alles, was irgendwie nicht stimmte, vorzugsweise für schmutzige oder beschämende oder auch nur peinliche Dinge. Stets war sie die erste, die merkte, daß jemand einen Pickel im Gesicht hatte oder daß Ernest mit einer Lüge ankam.
»Iß nicht zuviel«, ermahnte sie ihren Mann. »Ich mach dir gleich einen Grog.«
Für gewöhnlich aß er aufgewärmtes Fleisch mit Kartoffeln, wenn er nach Hause kam. Aber diesmal setzte er sich noch nicht einmal auf seinen Platz. Er warf bloß einen mürrischen Blick in die Küche und wandte sich dann gleich zur Treppe.
Er war noch nie so müde gewesen. Es war schlimmer als Müdigkeit: Alle Knochen taten ihm weh, er hatte Kopfschmerzen und die Augen brannten wie Feuer. Vor allem aber fühlte er sich so elend und voller Ekel wie nach
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