Der Mann aus London
Zollbüro. Er war in Begleitung eines jungen Mädchens und hatte in jeder Hand einen Koffer. Die beiden sahen wohlhabend aus, und deshalb kam der Schlafwagenschaffner auf sie zu und wollte ihnen das Gepäck abnehmen. Aber der Mann lehnte ab und schaute sich suchend und irgendwie ängstlich um.
Selbst von weitem war er eine auffallende Erscheinung in seinem Pelz; dazu die lange weiße Künstlermähne, die über den Persianerkragen herabfiel.
Wenn man jahrzehntelang alle Ausschiffungen miterlebt hat, fällt es nicht schwer, die besondere Situation eines jeden Passagiers zu erfassen. Der alte Mann und das Mädchen waren ratlos wie alle, die nicht den Zug nach Paris nehmen, sondern in Dieppe bleiben wollten. Im Winter war man hier nicht auf Fremde eingestellt, und daher sahen sie sich vergebens nach einem Hotelboy oder einem Taxi um. Der alte Mann hielt zweimal einen Straßenpassanten an, aber die Angesprochenen verstanden offenbar kein Englisch oder konnten ihm keine Auskunft geben. Schließlich nahm sich ein Gepäckträger ihrer an; er ging mit ihnen den Zug entlang, führte sie um die Lokomotive herum, und kurze Zeit darauf fuhren der alte Mann und das junge Mädchen in einer Droschke davon.
Auch der Zug fuhr ab. Das Bahnhofsgebäude wurde geschlossen. Maloin hatte Durst und nahm sich vor, auf einen Sprung ins Moulin-Rouge zu gehen und dort etwas Warmes zu trinken, sobald draußen alles wieder ruhig geworden war.
Aber er konnte sich diesem verlockenden Vorsatz nicht lange hingeben. Als der Rummel auf dem Kai vorbei war, merkte man erst richtig, daß da draußen alles Mögliche vor sich ging. Maloin machte an vier verschiedenen Stellen die matt schimmernden Tressen von Gendarmen aus; zwei weitere Gestalten, wahrscheinlich auch Gendarmen, bewegten sich völlig im Dunkeln, so daß die Uniform nicht zu erkennen war.
Der Sonderkommissar hatte das Hafengebiet auch noch nicht verlassen. Er war klein und dünn, trug stets einen elegant taillierten Mantel und Lackschuhe, die jetzt als glänzende Punkte sichtbar wurden, sobald er in den Lichtkreis einer Gaslaterne trat. Er entwickelte nämlich eine nervöse Betriebsamkeit, ging pausenlos hin und her, und wenn er stehenblieb, konnte man sicher sein, daß dort jemand Wache stand: ein Gendarm, ein Inspektor in Zivil oder ein Sergeant der städtischen Polizei.
Es handelte sich also um einen Großeinsatz, von dem Maloin hier nur einen Ausschnitt mitbekam. Aber er war sicher, daß sich das Überwachungsnetz über das ganze Stadtgebiet erstreckte.
Ob es der Mann aus London war, den sie suchten? Die Annahme lag nahe, da Maloin ihn nirgendwo in der Nähe herumstreifen sah. Und als dann noch eine weitere Gestalt unten auf dem Trottoir auftauchte, fühlte er sich in seiner Annahme vollends bestätigt. Die Gestalt war so typisch die des englischen Kriminalbeamten, wie er von Zeit zu Zeit hier in Dieppe an Land ging, daß kein Zweifel möglich war. Diese Männer kamen mit einem Spezialauftrag; sie blieben mitunter eine, oft sogar zwei volle Wochen in Dieppe und tauchten bei jeder Schiffsankunft an der Gangway auf.
Der da unten ging geradewegs ins Moulin-Rouge, was darauf hinwies, daß er die Stadt kannte. Die ganze Zeit über, in der er in der Bar blieb, spähte Maloin unruhig zur Eingangstür, und er wurde noch nervöser, als er den Kriminalbeamten in Begleitung Camélias herauskommen sah. Natürlich nicht, um mit ihr in das bewußte kleine Hotel zu gehen … Wahrscheinlich war es ihm in der Bar zu laut gewesen für eine Unterredung, und nun liefen die beiden auf dem Trottoir auf und ab, wobei sie jedesmal eine Strecke von etwa hundert Metern zurücklegten, dann wie auf Verabredung kehrt machten und immer wieder in der Nähe des Stellwerks mit der Glaskabine vorüberkamen.
Der Inspektor war sehr ruhig. Er machte sich keine Notizen. Manchmal nickte er, wohl zum Zeichen der Zustimmung. Camélia ihrerseits redete wie ein Wasserfall, offenbar aus Wut oder aus Angst. Einmal blieb sie sogar stehen und legte dem Inspektor beide Hände auf den Arm; der aber machte sich sanft los und setzte seinen Marsch fort.
Gestern noch hätte Maloin geglaubt, daß ihn die polizeilichen Ermittlungen aus der Fassung bringen würden. Zu seinem eigenen Erstaunen wurde er jedoch immer ruhiger. Von seinem Glaskasten aus beobachtete er ungerührt, was da unten vor sich ging; er beobachtete Camélia und ihren Begleiter, die Gendarmen und zeitweilig auch den Sonderkommissar, der immer wieder an einem
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