Der Mann aus London
geschlossenen Fensters jedoch nur als undeutliches Gemurmel zu ihm drangen. Er schob seinen Stuhl so weit zurück, daß er die Beine ausgestreckt auf den Tisch legen konnte, lehnte sich möglichst weit nach hinten und paffte in noch dickeren Schwaden.
Die ganze Sache ließ ihn so kalt, daß er Mühe hatte, das Lächeln zu unterdrücken, das ihm auf den Lippen stand. Als er dann die eiserne Leiter vibrieren spürte, setzte er eine verschlafene Miene auf, was ihm nicht schwerfiel. Ein paar Sekunden später wurde an die Tür geklopft.
»Herein!« knurrte er.
Es war der englische Beamte. Er hatte die Tür hinter sich angelehnt, und Maloin hatte Bedenken, weil der Beschlag auf den Fensterscheiben dadurch vielleicht wieder verschwand. Er stand deshalb auf und gab der Tür einen Fußtritt, wobei er seinem Besucher einen wütenden Blick zuwarf.
»Was wollen Sie hier?« fragte er und mußte insgeheim lächeln, als er sah, daß der Blick des Beamten sich auf die Scheiben geheftet hatte.
»Ich bin von Scotland Yard und möchte Sie um eine Auskunft bitten.«
Der Kriminalbeamte rieb mit dem Handrücken eine der Scheiben blank, um die Sicht nach draußen zu überprüfen.
»Sind wir in Frankreich oder in England?«
Maloin wurde sogar unverschämt.
Der Beamte drehte sich überrascht um und erfaßte mit einem Blick den ganzen Raum: den Ofen, die Meerschaumpfeife, den Tisch mit dem alten Löschpapier darauf und das Tintenfaß mit der violetten Tinte.
»Ich ermittle mit Zustimmung der französischen Polizei«, sagte er.
»Das kann jeder sagen!«
Maloin war hingerissen von der Art, wie er seine Rolle spielte.
»Wenn Sie darauf bestehen, kann ich den Sonderkommissar herbeirufen. Aber im Grunde ist es kaum der Mühe wert. Ich habe nur ein oder zwei Fragen an Sie … Sind die Fenster hier immer geschlossen?«
»Ja, immer.«
»Und was machen Sie, um die Züge zu sehen?«
»Wenn ich jemand erzählte, daß ich gerade jetzt Lust hatte, einen Witz zu machen, würde er mir das nicht abnehmen«, dachte Maloin.
Und doch stimmte es. Mit dem Kinn deutete er auf das Stück Scheibe, das der andere blankgerieben hatte.
»Ich mach’s genauso wie Sie«, sagte er.
»Ist Ihnen in den letzten Nächten nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Was nennen Sie ungewöhnlich?«
»Ach, nichts weiter. Ich danke Ihnen.«
Der Beamte betrachtete nochmals den Stuhl, den Ofen, den Tisch, die Tinte und sogar den Schrank, tippte dann an seine Melone und ging wieder hinaus, Jetzt erst hatte Maloin das Gefühl, die Kehle sei ihm wie zugeschnürt, und er hätte viel für eine Tasse heißen Kaffees gegeben. Seine Schnapsflasche war auch leer, und sein Kollege hatte diesmal nicht vergessen, seine eigene wegzuschließen.
Er konnte jetzt kein Fenster mehr öffnen und demnach auch nicht hinausschauen. Die Hitze wurde unerträglich. Maloin zog sich das Jackett aus und setzte sich mit offenem Hemd wieder hin. Ein leises Geräusch an den Scheiben zeigte ihm an, daß der übliche November-Nieselregen eingesetzt hatte.
Maloin konnte sich von seinem Platz aus mühelos die nächtliche Szenerie draußen vorstellen: die Kette der Straßenlaternen mit ihren gelben Lichtern, im Regen verwischt; die naßglänzenden Straßen und schwarzen Kais; das Wasser des Hafenbeckens, auf dem der Sprühregen winzige Kreise bildete, die sofort wieder vergingen; die Gendarmen, die den Mantelkragen hochschlugen und schließlich den kleinen cholerischen Sonderkommissar, der aufgeregt hin und her hüpfte und ständig darauf bedacht war, mit seinen Lackschuhen nicht in den Schmutz zu treten.
Und Camélia. Die saß im Moulin-Rouge hübsch im Trockenen; sie wurde von den Gästen zum Tanzen aufgefordert und bekam einen Drink spendiert.
Wo aber war der Mann aus London? Natürlich nicht mehr im Hotel. Er mußte gesehen haben, wieviel Polizei in der Stadt und im Hafen aufgeboten war … Es war für ihn sicherlich unmöglich, auch nur dreihundert Meter zurückzulegen, ohne auf einen Gendarmen oder einen Inspektor zu stoßen.
Wie immer hatte die Polizei damit angefangen, Schiffe und Boote zu inspizieren, da sie ein leichtes Versteck boten. Und als nächstes würden die dritt- und viertklassigen Hotels drankommen. Die Angelegenheit ließ Maloin keine Ruhe.
»Wo hätte ich mich an seiner Stelle versteckt?« überlegte er schließlich.
Das erste, was ihm einfiel, waren die drei oder vier Höhlen in der Steilküste, aber daran würden auch die Gendarmen zuerst denken.
»Wenn er dort
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