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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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hingegangen ist, dann ist er verloren!«
    Was kam sonst noch in Frage? Laufend sein Versteck wechseln? Auch nicht besser. Und ein Boot losmachen und damit aufs offene Meer hinausfahren war Schwachsinn, denn alle Häfen würden alarmiert sein.
    Maloin kam zu dem Schluß, daß der Mann aus London nur die eine Chance hatte, in einem Privatquartier in der Stadt unterzukommen, bei einem Freund oder Bekannten. Aber er schien niemand zu kennen. Er hatte nie mit jemand gesprochen, außer mit Camélia, und die schien eher schlecht auf ihn zu sprechen zu sein.
    »Also schnappen sie ihn!«
    Maloin war unbehaglich zumute bei dem Gedanken, überlegte aber dann, daß dies ja in seinem eigenen Interesse sei.
    »Auf die Art kann er wenigstens nicht herkommen und mir das Geld abverlangen. Aber …«
    Er berichtigte sich sofort.
    »Aber er wird aussagen, daß der Koffer ins Wasser gefallen ist, und zwar in der Nähe des Stellwerks …«
    Er erstickte fast in seiner Kabine. Er machte trotz allem die Tür auf und blieb einen Moment an der frischen Luft stehen. Er schaute kurz zu dem von Lichtern umrandeten Hafenbecken und dann zum Moulin-Rouge mit den bunten Fenstern hinüber. Als sein Blick dann zur Steilküste wanderte, dachte er mißmutig daran, was ihn am Morgen zu Hause erwarten würde: mürrische Gesichter, womöglich Vorwürfe oder eine weitere Szene.
    Na ja, er konnte das abblocken, indem er sofort ins Schlafzimmer hinaufging und sich hinlegte; Schlaf hatte er auch bitter nötig. Er kehrte in die Kabine zurück, nickte wieder ein und machte die Augen erst wieder auf, als es draußen dämmerte. Jetzt konnte er endlich das Fenster öffnen und einen Blick in die Runde werfen.
    Er hielt zuerst nach den Gendarmen Ausschau, entdeckte jedoch nur zwei Posten, einen auf jedem Kai. Aber in der Nähe des Fischmarktes stiegen gerade mehrere Menschen aus einem Wagen und stellten sich zu einer Gruppe zusammen. Maloin erkannte den Hafenmeister und den Kommissar der Küstenpolizei, die aufmerksam den Ausführungen des Sonderkommissars zuhörten. Der Beamte von Scotland Yard stand auch dabei, nicht jedoch der weißhaarige Alte, der sich sicher schlafen gelegt hatte.
    Ein paar Minuten später legten einige Barkassen mit jeweils drei Mann Besatzung vom Kai ab. Maloin wußte, was das zu bedeuten hatte. Dieses Schauspiel wiederholte sich regelmäßig dann, wenn jemand vermißt wurde und Verdacht bestand, daß der Betreffende ertrunken war. Dann liefen stets die mit Haken, Stangen und Schleppnetzen ausgerüsteten Suchboote aus.
    Die auf dem Kai zurückgebliebenen Herren blieben noch ein paar Minuten mit naßglänzenden Schultern in dem feinen Novemberregen stehen und unterhielten sich. Dann gingen sie auseinander.
    Es war das abscheulichste Wetter, das man sich vorstellen konnte, naßkalt und mit tiefverhangenem Himmel. Es legte sich einem unweigerlich aufs Gemüt. Die Eisenbahnwaggons trieften. Monsieur Babu, der Reeder, wollte wegfahren und brachte eine Viertelstunde lang seinen Wagen nicht zum Anspringen.
    »Hat’s einen Ertrunkenen gegeben heute nacht?« fragte Maloins Kollege, der die Suchboote gerade noch auslaufen sah.
    »Nichts hat’s gegeben.«
    »Ist das ’ne Affenhitze hier!« sagte der andere noch und schob den Zugregler des Ofens zurück.
    Währenddessen saß der Mann aus London irgendwo herum, womöglich zitternd vor Kälte, womöglich ohne Geld, sich etwas zu essen zu kaufen, womöglich …
    Madame Maloin stand auf der Schwelle, als ihr Mann nach Hause kam. Sie bemerkte seinen ausweichenden Blick und dachte, die gestrige Szene sei der Grund. Sie entschloß sich, den ersten Schritt zu tun.
    »Ich hab Henriette schlafen lassen«, murmelte sie, als sie ihrem Mann den Kaffee vorsetzte. »Soll sie wenigstens was davon haben. Sie wird nicht lange ohne Stelle bleiben.«

6
    »Olga! Bringen Sie rasch Mademoiselle Mitchel das Frühstück ins Zimmer!«
    Madame Dupré warf einen prüfenden Blick auf das Tablett, als das Zimmermädchen vorüberkam.
    »Tun Sie noch zwei Stück Toast und eine Portion Butter dazu!«
    Die Wanduhr über der Mahagonibar zeigte halb zehn. Aber die Tageszeit hatte im Augenblick keine Bedeutung mehr. Das ganze Hôtel de Newhaven war in seinem Zeitplan durcheinandergekommen.
    Der alte Mitchel, der erst um fünf Uhr früh zurückgekommen war, war bereits aufgestanden. Man hörte ihn im Badezimmer auf und ab gehen, und der Etagenkellner behauptete, er mache Gymnastik.
    Inspektor Molisson dagegen war die ganze Nacht

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