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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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strategisch wichtigen Punkt auftauchte.
    Es war nicht schwer, die Ereignisse zu rekonstruieren. Der englischen Polizei war ein Diebstahl gemeldet worden und, im Zusammenhang damit, vielleicht ein Mord, und die Spur hatte nach Dieppe geführt. Man hatte den hiesigen Sonderkommissar benachrichtigt, und der fahndete nun nach dem Mann im Regenmantel oder versuchte wenigstens seine Flucht zu vereiteln. Eben darum waren auch alle Schiffe durchsucht worden, die noch heute nacht ausliefen. Der Hafen war abgeriegelt; Bahnhof und Straßen wurden überwacht.
    Von der Glaskabine aus gesehen war das Schauspiel nicht besonders beeindruckend, denn die Männer da unten sahen aus wie Spielfigürchen, und die Betriebsamkeit, mit der der Kommissar von einem zum anderen lief, wirkte eher grotesk.
    Viel beunruhigender war Camélia, die eine Menge auf dem Herzen zu haben schien. Sie hatte dem Scotland-Yard-Beamten bestimmt schon erzählt, daß die beiden Männer mit dem Koffer im Moulin-Rouge eingekehrt und dann zusammen hinausgegangen waren. Vielleicht hatte sie sogar beobachtet, daß sie den Weg zum Hafenbecken eingeschlagen hatten? Wenn ja, würde der Blick des englischen Beamten zwangsläufig auf die Glaskabine fallen, die wie eine Laterne am dunklen Himmel hing.
    Jetzt traf ein Taxi am Kai ein und fuhr langsam, zögernd, wie es schien, am Trottoir entlang. Als der Wagen auf Höhe von Camélia und dem Scotland-Yard-Beamten war, wurde von innen gegen die Scheibe geklopft; das Taxi hielt an, und der Mann mit den langen weißen Haaren stieg aus. Er drückte dem Inspektor die Hand und machte Anstalten, auch Camélia die Hand zu geben. Sie unterhielten sich alle drei ein paar Minuten lang, aber man merkte, daß Camélia bereits zur Randfigur geworden war. Als sie bald darauf ins Moulin-Rouge zurückkehrte, kümmerte sich keiner mehr um sie, und der Inspektor machte der Versammlung endgültig ein Ende, indem er das Taxi bezahlte, das in die Stadt zurückfuhr.
    Was der Mann vom Yard und der Weißhaarige hinterher taten, blieb Maloin anfangs ein Rätsel. Zunächst einmal stellten sie sich vor dem Bahnhof auf; der Inspektor nahm in aller Ruhe das umliegende Gelände in Augenschein und grenzte mit einer Handbewegung ein, wo etwa Anfang und Ende des Pariser Zuges gewesen waren, der bei Ankunft des Schiffes bereitgestanden hatte. Danach wandte er sich zu dem Schiff und schritt auf dem Kai mehrmals dessen Länge ab. Der alte Mann war ihm gefolgt und stand nun resigniert herum.
    Maloins Augen bestanden nur noch aus schmalen Schlitzen; sein ganzer Organismus schien sich auf Abwehr einzustellen. Er vermied es, zu dem Wandschrank mit dem Koffer hinzusehen. Man hätte meinen können, er wolle nichts heraufbeschwören. Aber er dachte volle fünf Minuten lang nach, eigensinnig und hartnäckig. Das Resultat dieser geistigen Anstrengung bestand darin, daß er sorgfältig das Fenster schloß, im Ofen Holz und Kohlen nachlegte und damit ein wahres Höllenfeuer erzeugte.
    Hinterher hatte er sogar soviel Schneid, sich mit langausgestreckten Beinen an den Tisch zu setzen, seine neue Pfeife zu stopfen und einfach vor sich hin zu starren. Vom Kai sah er nun nichts mehr, und er konnte gerade noch die Dächer der nächsten Häuser erkennen. Bald beschlugen die Scheiben der Kabine, sie wurden zuerst schmutziggrau und dann so weiß und undurchsichtig wie Milchglas.
    Sie waren drei Rangiermeister, und alle drei kannten dieses Phänomen: Im Winter, wenn hier geheizt wurde, mußte man immer ein Fenster einen Spalt offenlassen, wenn man noch Sicht nach draußen haben wollte. Der eine von ihnen, der leicht einen steifen Hals bekam, ließ manchmal sogar lieber das Feuer ausgehen, als immer in einer zugigen Kabine zu sitzen.
    Maloin war auch nicht dümmer als ein englischer Kriminalbeamter. Wenn der Mann vom Yard die Länge des Schiffs abschritt, so versuchte er herauszufinden, wie der Koffer mit dem Geld die Zollabsperrung hatte passieren können, das war Maloin klar. Und es war ihm auch klar, was weiter kommen mußte: Der Inspektor würde zum Moulin-Rouge hinüber gehen, wie es die beiden Männer getan hatten, und er würde sich umschauen, sobald er wieder herauskam. Und was würde ihm dann auffallen? Natürlich die Glaskabine! Wenn er sie bisher noch nicht entdeckt hatte, so nur deswegen, weil er nicht weit genug entfernt war. Aber es war sicher, daß’ die Nacht nicht vergehen würde, ohne daß …
    Maloin hörte Stimmen, die offenbar ganz nah waren, wegen des

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