Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
schokoladenbraunem Seidenbesatz. Lydia hätte es nie ausgewählt – es war ziemlich auffällig –, aber sie mußte zugeben, daß Charlotte darin entzückend aussah. Seit wann kauft sie sich Kleider, ohne mich mitzunehmen, fragte sich Lydia. Wer hat ihr gesagt, daß diese Farben den Reiz ihrer dunklen Haare und ihrer braunen Augen hervorheben? Hat sie sich etwa auch geschminkt? Und warum trägt sie kein Korsett?
Auch Stephen starrte seine Tochter an. Lydia bemerkte, daß er aufgestanden war, und mußte darüber fast lachen. Es wirkte wie eine dramatische Geste der Anerkennung, daß seine Tochter jetzt erwachsen war, und sie empfand es als besonders komisch, daß er es völlig unbewußt tat.
Die Wirkung auf Alex war noch größer. Er sprang auf, vergoß seinen Sherry und wurde puterrot. Lydia fühlte sich innerlich amüsiert über seine Schüchternheit. Er schob das tropfende Glas von der rechten in die linke Hand, konnte ihr jetzt weder die eine noch die andere reichen und stand völlig hilflos da. Es war ein peinlicher Augenblick, und er mußte sich erst wieder fassen, bevor er Charlotte begrüßen konnte, aber er wollte sie offensichtlich begrüßen, bevor er sich gefaßt hatte. Lydia wollte gerade irgendeine nichtssagende Bemerkung machen, um das Schweigen zu überbrücken, doch Charlotte kam ihr zuvor.
Sie zog Alex das seidene Taschentuch aus der Brusttasche, wischte ihm damit die rechte Hand ab und begrüßte ihn auf russisch: »Ich freue mich, Sie zu sehen, Alexeij Andreijewitsch.« Dann schüttelte sie ihm die jetzt trockene rechte Hand, nahm ihm das Glas aus der linken, wischte das Glas, wischte die linke Hand, gab ihm das Glas zurück, steckte ihm das Taschentuch in die Tasche zurück und bat ihn, wieder Platz zu nehmen. Sie setzte sich neben ihn und sagte: »Jetzt, nachdem Sie Ihren Sherry vergossen haben, erzählen Sie mir etwas über Diaghilew. Er soll ein seltsamer Mensch sein. Haben Sie ihn einmal kennengelernt?«
Alex lächelte. »Ja, ich kenne ihn.«
Während Alex sprach, staunte Lydia. Charlotte hatte ohne zu zögern den peinlichen Augenblick überbrückt und dann eine Frage gestellt – eine wahrscheinlich vorbereitete Frage –, mit der es ihr gelang, Orlows Gedanken von sich selbst abzulenken und ihn aus seiner Verlegenheit zu retten. Und das alles hatte sie so leichthin getan, als hätte sie zwanzig Jahre Übung darin. Wo hatte sie diese Haltung gelernt?
Lydia erhaschte den Blick ihres Mannes. Auch er hatte Charlottes Anmut und Geistesgegenwart bemerkt, und er lächelte breit mit väterlichem Stolz.
Felix ging im St. James’s Park auf und ab und überlegte sich, was er gesehen hatte. Von Zeit zu Zeit blickte er über die Straße zur schmucken weißen Fassade des Waidenschen Hauses, das sich über die Mauer des Vorhofs wie ein würdevoller Kopf über einen Stehkragen erhob. Sie glauben, sie seien da drinnen in Sicherheit, dachte er.
Schließlich setzte er sich auf eine Bank, von der aus er das Haus im Auge hatte. Um ihn herum schwärmte das kleinbürgerliche London, die Mädchen mit ihrem unglaublichen Kopfputz, die Angestellten und Ladenbesitzer auf dem Heimweg, in dunklen Anzügen und mit steifen Hüten. Tratschende Kinderfrauen, die Babys in ihren Wagen vor sich herschoben oder aufgeputzte Kleinkinder an der Hand hielten, Herren im Zylinder auf dem Wege zu ihren Clubs in St. James, Lakaien in Livree, die häßliche kleine Hunde an der Leine führten. Eine dicke Frau mit einer großen Einkaufstasche ließ sich plumpsend neben ihm auf der Bank nieder und sagte: »Ist es Ihnen heiß genug?« Er war sich nicht sicher, was die passende Antwort darauf wäre, lächelte nur und blickte dann fort.
Orlow schien zu ahnen, daß sein Leben in England gefährdet sei. Auf dem Bahnhof hatte er sich nur einige Sekunden lang gezeigt und im Hause bisher noch überhaupt nicht. Felix nahm an, daß er sich absichtlich einen geschlossenen Wagen bestellt hatte, denn das Wetter war warm und klar, und die meisten Leute fuhren in offenen Landauern.
Bis heute war der Mord nur ein abstrakter Plan gewesen. Eine Angelegenheit der internationalen Politik und diplomatischer Streitereien, militärischer Möglichkeiten von Allianzen und Ententen, der möglichen Reaktionen weit entfernter Kaiser und Zaren. Und jetzt war er plötzlich ganz real, denn es ging um einen wirklichen Menschen, dessen Größe und Gestalt ihm bekannt waren. Ein jugendliches Gesicht mit einem kleinen Schnurrbart, ein Gesicht, das von einer
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