Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Er fand die Gesellschaft von St. Petersburg zwar fröhlich, aber ziemlich prüde. Er liebte die russische Landschaft und den Wodka. Er war sprachbegabt, aber das Russische fiel ihm schwerer als alle anderen bisher erlernten Sprachen, und das war für ihn eine Herausforderung, die ihm gefiel.
Als der Nachfolger eines Earls war Waiden verpflichtet, dem britischen Gesandten einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, und vom Gesandten wiederum wurde erwartet, daß er Waiden zu Empfängen einlud und ihn in die Gesellschaft einführte. Waiden ging auf die Empfänge, weil er die politischen Gespräche mit den Diplomaten fast ebenso anregend fand wie das Kartenspiel mit den Offizieren oder die Saufabende mit den Schauspielerinnen. Auf einem Empfang bei der britischen Gesandtschaft war er Lydia zum erstenmal begegnet.
Er hatte schon vorher von ihr gehört. Sie galt als große Schönheit und ein Muster an Tugendhaftigkeit. Und in der Tat erschien sie ihm sehr schön in ihrer zarten, etwas farblosen Art, mit ihrem blassen Teint, dem blonden Haar und dem weißen Abendkleid. Sie war zugleich bescheiden, kultiviert und ausnehmend höflich. Dennoch weckte sie bei ihm keinerlei Interesse, und er wandte sich ziemlich rasch von ihrer Gesellschaft ab.
Aber später saß er neben ihr beim Dinner und war gezwungen, sich mit ihr zu unterhalten. Die Russen sprachen alle Französisch, und wenn sie noch eine zusätzliche Sprache lernten, war es Deutsch, so daß Lydia nur sehr gebrochen Englisch sprach. Zum Glück sprach Waiden sehr gut Französisch. Das Problem war also nur, einen passenden Gesprächsstoff zu finden. Er sagte irgend etwas über die russische Regierung, und sie antwortete mit einer der reaktionären Platitüden, wie man sie überall zu hören bekam. Dann erzählte er ihr begeistert von seinem Lieblingssport, der Großwildjagd in Afrika, und sie hörte ihm eine Weile interessiert zu, bis er die nackten schwarzen Pygmäen erwähnte, worauf sie errötete und sich dem Mann auf ihrer anderen Seite zuwandte. Waiden redete sich ein, daß sie ihm eigentlich nichts bedeutete, denn sie war ein Mädchen, das man heiratete, und er beabsichtigte nicht zu heiraten. Und doch wurde er das Gefühl nicht los, daß mehr in ihr steckte, als man auf den ersten Blick sah.
Jetzt, neunzehn Jahre später, lag er mit ihr im Bett und spürte: Dieses gleiche Gefühl habe ich merkwürdigerweise immer noch. Und er lächelte bei diesem Gedanken.
Er hatte sie an jenem Abend in St. Petersburg noch einmal gesehen. Nach dem Essen hatte er sich im Labyrinth des Gesandtschaftsgebäudes verlaufen und war zufällig in den Musiksalon geraten. Dort saß sie allein am Flügel und erfüllte den Raum mit wilder, leidenschaftlicher Musik. Das Stück war ihm unbekannt, und er fand es sogar etwas mißtönend, aber Lydia faszinierte ihn. Ihre blasse, unberührbare Schönheit war verschwunden, ihre Augen blitzten, sie hatte den Kopf zurückgeworfen, ihr Körper zitterte vor Gefühl, und sie schien wie verwandelt.
Diese Musik sollte er nie vergessen. Später entdeckte er, daß es Tschaikowskys Klavierkonzert in b-Moll war, und seitdem ging er in jedes Konzert, in dem es gespielt wurde, ohne Lydia je zu sagen, warum.
Als er die Gesandtschaft verließ, ging er in sein Hotel zurück, um sich umzuziehen, denn er hatte um Mitternacht noch eine Verabredung zum Kartenspiel. Er war ein begeisterter Spieler, aber nicht im selbstzerstörerischen Sinne. Er wußte stets, wieviel er sich zu verlieren erlauben konnte, und wenn er diese Summe erreicht hatte, hörte er auf. Hätte er große Spielschulden gemacht, wäre ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich an seinen Vater zu wenden, aber allein der Gedanke daran war ihm unerträglich. Manchmal gewann er hohe Beträge. Aber darin lag für ihn nicht der Reiz des Spiels. Ihm gefielen die Männergesellschaft, das Trinken und die späten Stunden der Nacht.
Er hielt seine mitternächtliche Verabredung nicht ein. Sein Diener Pritchard band ihm gerade die Krawatte, als der britische Gesandte an die Tür seiner Hotelsuite klopfte. Seine Exzellenz sah aus, als sei sie eben aus dem Bett gestiegen und habe sich in aller Eile angekleidet. Waidens erster Gedanke war, eine Revolution sei ausgebrochen und alle britischen Staatsbürger müßten sich in die Gesandtschaft flüchten.
»Ich habe leider schlimme Nachrichten für Sie«, sagte der Gesandte. »Setzen Sie sich lieber. Ein Telegramm aus England. Ihr Vater.«
Der alte Tyrann war im Alter
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