Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
von fünfundsechzig Jahren an einem Herzschlag gestorben.
»Ich will verdammt sein«, stieß Waiden hervor. »So früh.«
»Mein herzlichstes Beileid«, sagte der Gesandte.
»Es war sehr nett von Ihnen, persönlich zu kommen.«
»Das ist doch selbstverständlich. Kann ich irgend etwas tun?«
»Sie sind sehr liebenswürdig.«
Der Gesandte schüttelte ihm die Hand und ging hinaus.
Waiden starrte ins Leere, dachte an den alten Mann. Er war ein Hüne gewesen, mit einer eisernen Willenskraft und einem mürrischen Charakter. Seine spöttischen Bemerkungen konnten einen zum Weinen bringen. Es gab drei Arten, mit ihm auszukommen: So wie er zu werden, unterzugehen oder das Weite zu suchen. Stephens Mutter, ein liebes und hilfloses viktorianisches Mädchen, war untergegangen und jung gestorben. Stephen hatte das Weite gesucht.
Er stellte sich seinen Vater im Sarg vor und dachte: Endlich bist auch du hilflos. Jetzt kannst du nicht mehr die Zofen zum Weinen, die Diener zum Zittern und die Kinder zum Weglaufen und Sichverstecken bringen. Jetzt hast du nicht mehr die Macht, Ehen zu beschließen, Pächter vor die Tür zu setzen oder Gesetzesvorlagen des Parlaments zurückzuweisen. Du wirst keine Diebe mehr ins Gefängnis, keine Agitatoren mehr nach Australien schicken. Asche zu Asche, Staub zu Staub.
In späteren Jahren revidierte er seine Meinung über seinen Vater. Jetzt, im Jahre 1914, fünfzig Jahre alt, konnte Waiden sich eingestehen, daß er einige seiner guten Eigenschaften von seinem Vater geerbt hatte: Den Wissensdrang, den Glauben an die Vernunft, das Bewußtsein, daß gute Arbeit die Existenz eines Menschen rechtfertigt. Aber damals, im Jahre 1895, hatte er nur Bitterkeit verspürt. Pritchard brachte eine Flasche Whisky auf einem Tablett und sagte: »Ein trauriger Tag, Eure Lordschaft.«
Dieses Eure Lordschaft verblüffte Waiden. Er und sein Bruder wurden von der Dienerschaft stets mit »Sir« angeredet, und das »Eure Lordschaft« war ihrem Vater vorbehalten. Aber jetzt war Stephen ja der Earl of Waiden. Und mit diesem Titel besaß er nun auch einige tausend Hektar Land in Südengland, ein großes Stück von Schottland, sechs Rennpferde, Waiden Hall, eine Villa in Monte Carlo, ein Jagdhaus in Schottland und einen Sitz im Oberhaus.
Er würde in Waiden Hall leben müssen, es war der Sitz der Familie, und der Earl wohnte traditionell dort. Er beschloß, eine elektrische Lichtleitung im Schloß anbringen zu lassen. Er würde einige Ländereien verkaufen und das Geld in Grundbesitz in London und in nordamerikanischen Eisenbahngesellschaften anlegen. Im Oberhaus mußte er seine Antrittsrede halten – aber worüber sollte er sprechen? Außenpolitik wahrscheinlich. Man mußte sich um die Pächter kümmern, einige Haushaltsangelegenheiten regeln. In dieser Saison mußte er bei Hof erscheinen, er würde Fuchsjagden veranstalten, Bälle geben …
Er brauchte eine Frau.
Die Rolle des Earl of Waiden konnte nicht von einem Junggesellen gespielt werden. Auf all den Empfängen mußte eine Gastgeberin anwesend sein, jemand mußte Einladungen beantworten, die Menüs mit den Köchen besprechen, den Gästen Schlafzimmer zuweisen, an der Schmalseite des langen Tisches im Speisesaal von Waiden Hall sitzen. Es mußte eine Gräfin Waiden geben.
Und er brauchte einen Erben.
»Pritchard, ich muß heiraten.«
»Jawohl, Eure Lordschaft. Unsere Junggesellentage sind vorüber.«
Am nächsten Tag besuchte Waiden Lydias Vater und bat offiziell um Erlaubnis, bei ihr vorsprechen zu dürfen.
Zwanzig Jahre später konnte er sich nur noch schwer vorstellen, wie er – wenn auch als junger Mann – so verantwortungslos hatte handeln können. Er hatte sich nie gefragt, ob sie die richtige Frau für ihn war, hatte in ihr nur das »Material« gesehen, das sich gut für eine Gräfin eignete. Er hatte sich nie gefragt, ob er sie glücklich machen könnte. Er hatte einfach angenommen, daß sich die verborgene Leidenschaft, die sich bei ihrem Klavierspiel entfesselte, auch für ihn entfesseln würde, und da hatte er sich geirrt.
Zwei Wochen lang hatte er sie jeden Tag besucht – es war ihm nicht genug Zeit geblieben, zur Beerdigung seines Vaters rechtzeitig nach England zurückzukehren -und dann hatte er seinen Heiratsantrag nicht ihr, sondern ihrem Vater gestellt. Ihr Vater betrachtete diese Ehe ebenso von der praktischen Seite wie Waiden. Waiden erklärte ihm, er wolle, obgleich er noch in Trauer sei, sofort heiraten, weil er heimkehren
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