Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Kugel entstellt werden mußte, ein verhältnismäßig kleiner Körper in einem schweren Mantel, der von einer Bombe in blutige Stücke und Fetzen zerrissen werden mußte, eine sauber rasierte Kehle über einer getupften Krawatte, eine Kehle, die aufgeschlitzt werden mußte.
Zu alledem fühlte sich Felix durchaus befähigt. Mehr als das, er brannte sogar darauf. Es gab noch einige Fragen, aber sie würden beantwortet werden, noch einige Probleme, aber sie würden gelöst werden, und es bedurfte starker Nerven – und die hatte er.
Er stellte sich Orlow und Waiden in diesem schönen Haus vor, wie sie dort in ihren bequemen weichen Anzügen saßen, umgeben von stillen und beflissenen Dienern. Bald würden sie zu Abend essen, sich an einen langen Tisch setzen, dessen polierte Oberfläche das feine Leinen und das Tafelsilber wie ein Spiegel reflektierte. Sie würden mit makellos sauberen Händen essen, mit geputzten Fingernägeln, und die Frauen würden Handschuhe tragen. Sie würden etwa ein Zehntel der aufgetragenen Speisen verzehren und den Rest in die Küche zurückschicken. Vielleicht würden sie sich über Rennpferde unterhalten oder über die neue Damenmode oder über einen König, den sie alle persönlich kannten. Und die Leute, die man dann in den Krieg schicken würde, fröstelten unterdessen in ihren Hütten in dem grausamen russischen Klima – und hielten dabei immer noch einen Extrateller Kartoffelsuppe für einen vorüberziehenden Anarchisten bereit.
Welche Freude wird es sein, Orlow zu töten, dachte er, welche süße Rache. Wenn ich das getan habe, kann ich zufrieden sterben. Er erschauderte.
»Sie holen sich eine Erkältung«, sagte die dicke Frau.
Felix zuckte mit der Schulter.
»Ich habe ihm ein schönes Lammkotelett für das Abendessen besorgt und einen Apfelkuchen gebacken«, bemerkte sie.
»Aha«, sagte Felix. Über was redete sie eigentlich? Er stand auf und ging über den Rasen auf das Haus zu. Lässig lehnte er sich mit dem Rücken an einen Baum. Er müßte dieses Haus ein oder zwei Tage lang beobachten und herausfinden, welche Art von Leben dieser Orlow in London führte. Wann er das Haus verließ, wo er hinging, ob er in einer Kutsche, einem Landauer, einem Auto oder einer Droschke fuhr, wieviel Zeit er mit Waiden verbrachte. Es wäre ideal, Orlows Bewegungen voraussehen und ihm dann auflauern zu können. Dazu mußte er sich seine Gewohnheiten einprägen oder einen Weg finden, die Pläne des Fürsten im voraus zu erfahren -vielleicht ergab sich irgendwann die Möglichkeit, einen Diener im Hause zu bestechen.
Schließlich stellte er sich die Frage, welche Waffe er benutzen und wie er sie beschaffen sollte. Das Modell hing natürlich von den jeweiligen Umständen des in allen Einzelheiten auszuarbeitenden Mordplans ab. Bei der Beschaffung kam es ganz auf die Anarchisten der Jubilee Street an. Die Gruppe der Amateurschauspieler konnte er von vornherein ausschließen, auch die Intellektuellen in den Dunstan Houses wie auch alle jene, die über einen festen Lebensunterhalt verfügten. Aber es gab da vier oder fünf zornige junge Männer, die immer Geld zum Trinken brauchten. Er hatte einmal gehört, wie sie bei einem ihrer seltenen politischen Gespräche den Anarchismus als Mittel zur Ausbeutung der Ausbeuter bezeichnet hatten, was im Jargon soviel wie die Finanzierung der Revolution durch Diebstahl bedeutete. Die hatten sicher Waffen oder wußten wenigstens, wo man sie sich holen konnte.
Zwei junge Mädchen, die wie Ladengehilfinnen aussahen, schlenderten an seinem Baum vorbei; er hörte, wie die eine von ihnen sagte: »… habe ich ihm geantwortet, wenn du dir einbildest, du brauchst ein Mädchen nur ins Bioscope einzuladen und ihr dann ein Glas Bier zu spendieren, dann kannst du . « Und dann waren sie vorbei.
Ein seltsames Gefühl überkam Felix. Er fragte sich, ob es auf die Mädchen zurückzuführen war – nein, sie bedeuteten ihm nichts. Bin ich besorgt? überlegte er. Nein. Zufrieden? Nein, das kommt später. Erregt? Kaum. Er kam zu dem Schluß, daß er glücklich war. Es war wirklich sehr seltsam.
In jener Nacht ging Waiden in Lydias Zimmer. Nachdem sie sich geliebt hatten, schlief sie ein, während er noch lange wach lag, ihren Kopf an seiner Schulter, und sich an das St. Petersburg des Jahres 1895 erinnerte.
In jener Zeit war er ständig auf Reisen gewesen, in Amerika, Afrika, Arabien – hauptsächlich, weil England für ihn und seinen Vater gemeinsam nicht groß genug war.
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