Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
Kleid?«
    »Es ist reizend. Nur ihre Haltung stört mich. Sie weigert sich in letzter Zeit, auf mich zu hören. Ich möchte nicht, daß sie einmal zynisch wird.«
    Stephen wollte sich keine Sorgen darüber machen.
    »Warte nur, bis irgendein hübscher Gardeoffizier ihr seine Aufmerksamkeit schenkt – dann wird sich alles ändern.«
    Diese Bemerkung mißfiel Lydia, denn sie setzte voraus, daß alle Mädchen Sklavinnen ihrer romantischen Natur seien. Ähnliches sagte Stephen immer, wenn er einem ernsthaften Thema ausweichen wollte. Er kam ihr dann wie ein jovialer Landedelmann vor, obwohl er in Wirklichkeit ganz anders war. Was er sich wünschte, war ganz einfach, daß Charlotte sich in nichts von anderen achtzehnjährigen Mädchen unterschied. Lydia wußte jedoch, daß sie in ihrem Wesen eine höchst unenglische Wildheit bewahrte, die ihr ausgetrieben werden mußte.
    Und wider aller Vernunft empfand Lydia Charlottes wegen ein fast feindseliges Gefühl gegen Alex. Es war natürlich nicht seine Schuld, aber er war für sie das St. Petersburger Trauma, die Gefahr der Vergangenheit. Sie bewegte sich unruhig in ihrem Sessel und bemerkte, daß Stephen sie verschmitzt anblickte.
    »Du bist doch nicht etwa nervös, weil du dem kleinen Alex begegnen wirst«, sagte er.
    »Russen sind so unberechenbar«, erwiderte sie achselzuckend.
    »Er ist nicht sehr russisch.«
    Sie lächelte ihren Mann an, aber der Augenblick der Intimität war vorbei, und jetzt blieb nur noch die gewöhnliche beherrschte Zuneigung in ihrem Herzen zurück.
    Die Tür ging auf. Bewahre deine Ruhe, ermahnte sich Lydia.
    Alex trat ein. »Tante Lydia!« sagte er und beugte sich über ihre Hand.
    »Wie geht es dir, Alexeij Andreijewitsch?«, erwiderte sie mit formeller Höflichkeit. Dann wurde ihre Stimme weicher, und sie fügte hinzu: »Aber du siehst ja immer noch wie achtzehn aus.«
    »Ich wollte, ich wäre es«, sagte er, während seine Augen zwinkerten.
    Sie fragte ihn nach seiner Reise, und während er antwortete, rätselte sie, warum er noch nicht verheiratet war. Er hatte schließlich einen Titel, der viele Mädchen reizen konnte – von ihren Müttern ganz zu schweigen –, und überdies war er sehr reich und sah blendend aus. Er hat bestimmt schon einige Herzen gebrochen, dachte sie.
    »Dein Bruder und deine Schwestern senden dir viele liebe Grüße«, sagte Alex, »und sie bitten dich, für sie zu beten.« Er runzelte die Stirn. »In St. Petersburg herrscht jetzt große Unruhe – es ist nicht mehr die Stadt, die du gekannt hast.«
    Stephen bemerkte: »Wir haben von diesem Mönch gehört.«
    »Rasputin. Die Zarin glaubt, daß Gott durch ihn spricht, und sie hat großen Einfluß auf den Zaren. Aber Rasputin ist nur ein Symptom. Wir haben ständig Streiks und manchmal Aufstände. Das Volk glaubt nicht mehr an die Heiligkeit des Zaren.«
    »Was ist da zu tun?« fragte Stephen.
    Alex seufzte. »Alles. Wir brauchen gut bewirtschaftete Bauerngüter, mehr Fabriken, ein richtiges Parlament wie in England, eine Bodenreform, Gewerkschaften, Redefreiheit …«
    »Mit den Gewerkschaften würde ich es an deiner Stelle nicht so eilig haben«, fiel Stephen ein.
    »Vielleicht. Immerhin muß Rußland sich endlich dem zwanzigsten Jahrhundert anschließen. Entweder tun wir Adligen den ersten Schritt, oder das Volk wird uns vernichten und ihn selber tun.«
    Lydia fand, daß er sich radikaler als die Radikalen gebärdete. Wie sehr müssen sich die Verhältnisse daheim verändert haben, wenn ein Fürst so spricht! Ihre Schwester Natascha, Alex’ Mutter, erwähnte in ihren Briefen zwar die »Unruhen«, hatte jedoch nie angedeutet, daß der Adel wirklich in Gefahr schwebte. Alex glich seinem Vater, dem alten Fürsten Orlow, der sich mit Leib und Seele der Politik verschrieben hatte und gewiß heute ganz ähnlich reden würde, wenn er noch am Leben wäre.
    Stephen sagte: »Es gibt noch eine dritte Möglichkeit -eine Lösung, die noch eine Einigung zwischen Adel und Volk herbeiführen könnte.«
    Alex lächelte, schien das, was jetzt kommen sollte, vorausgesehen zu haben. »Und das wäre?«
    »Ein Krieg.«
    Alex nickte sehr ernsthaft. Sie haben die gleichen Gedanken, stellte Lydia fest. Alex hat immer zu Stephen aufgeblickt. Er war für den Jungen zu einer Vaterfigur geworden, nachdem der alte Fürst gestorben war.
    Charlotte trat ein, und Lydia starrte sie überrascht an. Sie trug ein Kleid, das Lydia noch nie gesehen hatte, ein Modell aus cremefarbener Spitze mit

Weitere Kostenlose Bücher