Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
blondem Haar, einem hübschen Gesicht und einem Spatzengehirn.
Könnte es wahr sein? Könnte Felix sie derart betrogen haben? Warum nicht – immerhin hatte er sich neunzehn Jahre lang eingebildet, sie habe ihn verraten.
Sie las die Splitter der Parfümflasche auf, wickelte sie in ein Taschentuch und wischte das vergossene Parfüm auf. Was sollte sie jetzt tun? Sie mußte Stephen warnen, aber wie? Sie mußte sich eine Geschichte ausdenken. Sie dachte eine Weile nach. Früher einmal eine abgefeimte Lügnerin, war sie inzwischen aus der Übung gekommen. Schließlich legte sie sich etwas zurecht, das ungefähr den Lügen entsprach, die Felix ihr und Pritchard aufgetischt hatte. Sie zog sich einen Kaschmirmorgenrock über das seidene Nachthemd und ging in Stephens Schlafzimmer.
Er saß im Pyjama am Fenster, hielt ein Glas Cognac in der einen und eine Zigarre in der anderen Hand und blickte auf den vom Mondlicht erhellten Park hinaus. Es überraschte ihn, sie hereinkommen zu sehen, denn gewöhnlich war er es, der sie nachts in ihrem Schlafzimmer besuchte. Er erhob sich freudig lächelnd und umarmte sie. Sie sah, daß er ihren Besuch mißverstand; glaubte, sie sei gekommen, um ihn zu lieben.
Sie sagte: »Ich muß mit dir sprechen.«
Er ließ sie los, sah enttäuscht aus. »Um diese Zeit?«
»Ich glaube, ich habe etwas furchtbar Dummes getan.«
»Dann sag es mir lieber.«
Sie setzten sich zu beiden Seiten des kalten Kamins. Plötzlich wünschte sich Lydia, sie sei wirklich gekommen, um ihn zu lieben. Dann begann sie: »Ein Mann kam heute früh. Er sagte, er kenne mich aus St. Petersburg. Der Name war mir irgendwie vertraut, und ich glaubte, mich vage an ihn zu erinnern . Du weißt ja, wie es manchmal ist.«
»Wie war der Name?«
»Levin.«
»Und?«
»Er wollte den Fürsten Orlow sprechen.«
Stephen war plötzlich sehr aufmerksam. »Warum?«
»Es hatte irgend etwas mit einem Matrosen zu tun, der unschuldig im Gefängnis sitzt. Dieser … Levin … wollte persönlich bei ihm vorsprechen, um die Freilassung des Mannes zu erbitten.«
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe ihm gesagt, daß Alexander im Savoy wohnt.«
»Verdammt«, fluchte Stephen, dann entschuldigte er sich. »Verzeihung.«
»Nachher fiel mir ein, daß Levin vielleicht etwas Böses plante. Er hatte eine verletzte Hand, und ich erinnerte mich, daß du den Wahnsinnigen im Park verletzt hattest . und so . siehst du . dämmerte es allmählich in mir … Ich habe etwas Schreckliches getan, nicht wahr?«
»Es ist nicht deine Schuld. Eigentlich nur meine. Ich hätte dir die Wahrheit über den Mann im Park sagen sollen, aber ich hielt es für besser, dich nicht zu ängstigen. Das war ein Fehler.«
»Der arme Alex«, sagte Lydia. »Wie kann ihn nur jemand umbringen wollen? Er ist doch so süß.«
»Wie hat Levin ausgesehen?«
Die Frage brachte Lydia aus der Fassung. Levin war bisher für sie nur ein unbekannter Mörder gewesen, und jetzt war sie gezwungen, Felix zu beschreiben. »Ach . groß, schlank, dunkles Haar, etwa in meinem Alter, unverkennbar russisch, ein hübsches Gesicht mit markanten Zügen …« Sie hielt inne. Und ich sehne mich nach ihm.
Stephen stand auf. »Ich werde Pritchard wecken. Er kann mich zum Hotel fahren.« Lydia wollte sagen: Nein, tu es nicht, komm mit mir zu Bett, ich brauche deine Wärme und Zärtlichkeit. Sie sagte: »Es tut mir so leid.«
»Es könnte sogar sehr günstig sein«, sagte Stephen.
Sie blickte ihn verblüfft an. »Warum?«
»Weil er mir nicht entkommt, falls er ins Savoy geht, um Alex zu ermorden.« Und jetzt wußte Lydia, daß einer der beiden Männer, die sie liebte, den anderen töten würde, bevor alles vorüber war.
*
Felix nahm behutsam die Flasche Nitroglyzerin aus dem Waschbecken und durchquerte damit das Zimmer wie auf rohen Eiern. Das Kopfkissen lag auf der Matratze. Er hatte es auf einer Länge von etwa zwanzig Zentimeter aufgeschlitzt und führte nun die Flasche in das Kissen ein. Die Füllung schichtete er vorsichtig um die Flasche, so daß sie nun stoßfest geschützt in ihrer Hülle lag. Dann nahm er das Kissen vom Bett, trug es wie ein Baby und legte es in seinen offenen Koffer. Nachdem er den Koffer geschlossen hatte, atmete er erleichtert auf, zog sich den Mantel an, band sich den Schal um und setzte sich seinen steifen Huf auf. Mit großer Vorsicht nahm er den Pappkoffer beim Griff und ging hinaus.
Die Reise ins West End war ein Alptraum.
Natürlich konnte er das Fahrrad nicht
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