Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Tod!«
Während des Tages war Lydia ein schrecklicher Verdacht gekommen.
Nach dem Mittagessen war sie in ihr Zimmer gegangen, um sich hinzulegen. Sie war unfähig, an etwas anderes als an Felix zu denken. Er wirkte immer noch anziehend auf sie, und es wäre lächerlich gewesen, sich das ausreden zu wollen. Aber sie war kein hilfloses Mädchen mehr. Sie war eine reife Frau mit Erfindungskraft und Geistesgegenwart. Und sie war entschlossen, nicht die Beherrschung zu verlieren, nicht zuzulassen, daß Felix ihr das friedliche Leben zerstörte, das sie sich so behutsam aufgebaut hatte.
Sie dachte an all die Fragen, die sie ihm nicht gestellt hatte. Was tat er hier in London? Womit verdiente er sich seinen Lebensunterhalt? Wie hatte er sie zu finden gewußt?
Er hatte Pritchard einen falschen Namen angegeben. Bestimmt hatte er befürchtet, von ihr nicht eingelassen zu werden. Jetzt wurde ihr auch klar, warum der Name Konstantin Dmitritsch Levin ihr so vertraut geklungen hatte. Es war der Name einer Figur aus »Anna Karenina«, dem Buch, das sie gekauft hatte, als sie ihm zum erstenmal begegnet war. Ein Pseudonym mit einer Doppelbedeutung, eine geschickte Anspielung auf verschwommene Erinnerungen, wie ein Geschmack, der an die Kindheit gemahnt. Sie hatten über den Roman diskutiert. Lydia hatte ihn sehr realistisch gefunden, denn sie wußte, wie es ist, wenn die Leidenschaft in der Seele einer ehrbaren Frau ausbricht. Anna war Lydia. Felix jedoch hatte gesagt, es gehe in dem Buch gar nicht um Anna, sondern um Levin und seine Suche nach der Antwort auf die Frage: »Wie soll ich leben?«
Tolstois Antwort lautete: »In deinem Herzen weißt du, was recht ist.« Felix hatte behauptet, es sei gerade diese Art hohlköpfiger Moral – mit ihrer absichtlichen Ignoranz der Geschichte, der Volkswirtschaftslehre und der Psychologie –, die in Rußland zur völligen Inkompetenz und Degeneration der herrschenden Klasse geführt habe. Das war in der Nacht gewesen, als sie eingelegte Pilze gegessen und ihren ersten Schluck Wodka getrunken hatte.
Sie hatte ein türkisfarbenes Kleid getragen, das ihren grauen Augen einen blauen Schimmer verlieh. Felix hatte ihr die Zehen geküßt, und dann …
Ja, es war schlau von ihm gewesen, sie an all das zu erinnern.
War er schon lange in London, fragte sie sich, oder war er nur gekommen, um Alex aufzusuchen? Er mußte einen bestimmten Grund haben, sich wegen eines Matrosen, der in Rußland verhaftet war, ausgerechnet an einen in London weilenden Admiral zu wenden. Zum erstenmal kam Lydia auf den Gedanken, daß Felix ihr vielleicht nicht die Wahrheit gesagt hatte. Schließlich war er immer noch Anarchist. 1895 war er ganz entschieden für Gewaltlosigkeit gewesen, aber er konnte sich geändert haben.
Wenn Stephen wüßte, daß ich einem Anarchisten gesagt habe, wo er Alex finden kann …
Sie hatte sich während des Tees darüber Sorgen gemacht. Sie hatte sich darüber Sorgen gemacht, während die Zofe sie frisierte, mit dem Ergebnis, daß die Frisur mißlang und sie ganz schrecklich aussah. Sie hatte sich während des Dinners darüber Sorgen gemacht, mit dem Ergebnis, daß ihre Konversation mit der Marquise von Quort, Mr. Chamberlain und einem jungen Mann namens Freddy, der sich mehrere Male nach Charlotte erkundigt hatte, nicht gerade sehr glanzvoll verlaufen war.
Sie erinnerte sich an Felix’ zerschnittene Hand, die sie gedrückt hatte. Sie hatte nur einen flüchtigen Blick auf die Wunde geworfen; sie hatte ziemlich schlimm ausgesehen.
Und doch kam Lydia erst spät am Abend, als sie sich in ihrem Schlafzimmer das Haar bürstete, darauf, Felix mit dem Wahnsinnigen im Park in Verbindung zu bringen.
Der Gedanke war so erschreckend, daß sie eine Haarbürste mit goldenem Rücken auf den Toilettentisch fallen ließ und eine Parfümflasche zerbrach.
War Felix nach London gekommen, um Alex zu ermorden?
Angenommen, es war Felix, der die Kutsche im Park angegriffen hatte, nicht um zu rauben, sondern um Alex zu erschießen. War der Mann mit dem Revolver von gleicher Größe und gleichem Körperbau wie Felix? Ja, das könnte sein. Und Stephen hatte ihn mit seinem Schwert verletzt.
Dann hatte Alex das Haus verlassen, angeblich weil er Angst hatte (oder wußte er etwa, daß der »Raubüberfall« in Wirklichkeit ein Mordversuch war?) Und da Felix nun nicht wußte, wo er ihn suchen sollte, hatte er Lydia gefragt.
Sie starrte sich im Spiegel an. Sie sah eine Frau mit grauen Augen, hellen Brauen,
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