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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Blindheit.«
    »Lassen Sie das, Professor, keine Vorlesungen. Als ich Sie noch nicht kannte, nur beobachtet habe, da dachte ich, dass wir etwas gemein haben. Ich dachte, Sie seien derjenige, der mich verstehen könnte. Das war eine unsinnige Vorstellung.«
    »Eben. In der Tat.«
    »Noch einmal: Warum soll diese Holdenried sterben? Wer verlangt das?«
    »Annegrete ist eine ehrgeizige Dame. Nichts gegen solche Frauen, die Holdenried ist grandios. Es ist wie im Schach: Die Macht der Dame ist die größte. Aber sie sollte natürlich dem eigenen König dienen.«
    »Hat Frau Holdenried den König und damit die Seite gewechselt?«
    »Ich denke eher, sie hatte vor, den König zu opfern.«
    »Sodass der König beschließt, sie eliminieren zu lassen.«
    »Eben.«
    Ich stellte Bötsch nicht noch einmal die Frage, warum ausgerechnet ich, sozusagen ein Bauer, das Attentat auf die Dame verhindern und dadurch den König erzürnen sollte, wer auch immer das war. Doch in gewisser Weise hatte alles seine Richtigkeit. Ich war ja kein Bauer, der als getreuer Soldat kämpfte, sondern ein verrückter Bauer, nicht durchgehend schwarz, nicht durchgehend weiß, mehr eine gestreifte Granate, die abseits jeder Ordnung durch die Reihen zog. Und so sollte es bleiben.
    Ich bat Bötsch, mir Neupers Pistole zu bringen. Dann würde ich mich allein auf den Weg machen, um einem Plan zu folgen, den ich nicht verstand.
    »Würde ich ihn verstehen, würde ich ihm nicht folgen«, sagte ich.
    Bötsch lächelte milde ob einer solch vulgärphilosophischen Kraftanstrengung und verschwand im Geräteraum. Kehrte mit der Waffe zurück und legte sie mir zusammen mit einer unbenutzten Mehrfahrtenkarte und ein paar Hundertmarkscheinen in die gesunde, rechte Hand. Was mich an meine Linke erinnerte, welche überdeutlich zu schmerzen begann.
    »Wollen Sie mir denn kein Glück wünschen?«, fragte ich den Professor Bötsch.
    »Wozu? Würde ich Ihnen damit eine Freude machen?«
    »Nicht wirklich.«
    »Eben«, sagte Bötsch, drehte sich um und ging dorthin zurück, wo die Welt auf ein kleines Brett passte und noch immer ihre flache Form besaß.
    Ich verließ die Turnhalle. Mir ging ein Lied durch den Kopf. Schuberts Wanderer. Da heißt es: Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück . Dass ich jetzt an diesen Text dachte, war nicht fair. Immerhin war ich noch am Leben. Aber war das wirklich ein Glück? Ich summte das Lied voller Trotz, als ich mich durch den Stollen bewegte, schließlich den Keller des Wohnhauses erreichte und hinaufstieg. Es war kurz nach acht, als ich hinaus in einen kalten, grauen Morgen trat. Die Luft war so feucht, dass ich meinte, Plankton zu schlucken. Als ich losging, vergaß ich vollkommen, dass sich in meinem Rücken die Strafanstalt befand. Mein Blick war nach vorn gerichtet, auch wenn das optimistischer klingt, als mir zumute war. Ich bewegte mich auf einer lang gezogenen, menschenleeren Straße. Dass Stammheim nicht bloß aus einem trostlosen Dorf und einer unterirdischen Turnhalle bestand, wurde mir erst wieder klar, als mir ein Kleinbus der Polizei entgegenkam. Bevor er mich erreicht hatte, flüchtete ich in ein Bistro. Der Bus fuhr vorbei, auf das Gefängnis zu.
    Da ich der einzige Gast war, fragte ich die Frau hinter der Theke, ob schon geöffnet sei. Sie nickte, und ich bestellte einen Kaffee. Aus den Lautsprechern drang orientalische Musik. Hatte das Lokal von außen her klein ausgesehen, erwies es sich nun als ein ausgedehnter, nach hinten dunkler Schlauch. Die Einrichtung sah neu aus und billig. Der Kaffee war passabel. Ich dachte an Frau K. und schwor, in Zukunft für die Russen zu sein. Ohne das begründen zu wollen. Ich würde einfach mein Vorurteil umkehren. Zuerst gegen die Russen. Jetzt für die Russen. Zu Ehren der toten Frau K. Weshalb ich einen Schnaps bestellte und Frau K. zuprostete. Die Serviererin glaubte, ich hätte sie gemeint, und das machte sie verlegen. Mich auch. Aus diesem Grund wandte ich mich um und blickte durch eine große Scheibe hinaus auf die Straße, sah jetzt Passanten, sah gegenüber einen Möbelwagen parken. Auf der Ladebordwand mühten sich Männer mit einem Klavier ab. Es war mir nicht möglich festzustellen, ob sie es ein- oder ausluden. Mein Blick schweifte zu einem Straßenschild. Ich wusste nun also, dass ich mich auf der Asperger Straße befand. Asperg? Hohenasperg? War das nicht jene Festung, auf der Süß-Oppenheimer und Friedrich Schubart inhaftiert gewesen waren? Ich fand das übertrieben,

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