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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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den Strand brandeten.
    Ich blickte hinüber zum Bahnhofsturm, der die Gestalt eines Bergfrieds besaß und den man durchaus als Zentrum dieser Stadt verstehen konnte, als den Hauptturm der Burg Stuttgart, auch wenn er bloß über neun Etagen verfügte. Viel wesentlicher war, dass von der Höhe des Turms ein gewaltiger, sich drehender Mercedesstern aufragte. In der Nacht, wenn der Stern dank gebündelter Neonröhren erstrahlte, sah das richtig hübsch aus. Kein Einheimischer dachte dann an die Automarke, die dieser Stern repräsentierte, oder an die wirtschaftliche Bedeutung von Daimler Benz. Das galt für mich in gleichem Maße. So weit war ich bereits Stuttgarter, dass ich diesen Stern in mich aufgenommen hatte. Ein jeder Stuttgarter besaß seinen inneren Mercedesstern. Etwa im Bereich des Herzens, wie man sich denken kann, und nicht im Bereich des Verstandes, wo immer der liegen mag. Der innere Stern drehte sich parallel mit jenem auf dem Bahnhofsturm. Leuchtete der große Stern, leuchtete auch der innere. Untertags freilich musste der Mercedesstern ohne Illumination auskommen, und damit erlosch auch der innere Stern der Stuttgarter. Weshalb die Leute tagsüber immer ein wenig fahl wirkten. Man könnte auch sagen: ausgebrannt.
    Hinter mir vernahm ich das Heulen von Sirenen. Dennoch blieb ich ruhig. Die Bank, auf der ich saß, war von der Straße nicht einsehbar. Zudem hielt ich es für unwahrscheinlich, dass meine Verfolger so verquer dachten, mich an einem Plätzchen mit Aussicht zu suchen.
    Selbst als ich Schritte auf dem Kies vernahm, blieb ich gelassen. Ich vermutete einen Spaziergänger, der jeden Tag hierherkam. Und ich sah auch nicht zur Seite, als ein bemantelter Körper sich neben mir niederließ.
    »Zigarette?«, fragte der andere und hielt mir ein Päckchen hin, aus dem ein befilterter Stängel köderartig herausstand. Ich griff zu. Remmelegg gab mir Feuer.
    »Schön, unser Stuttgart«, sagte der Kriminalist, obwohl der Blick auf das Gelände hässlich war und dieser lichtarme Wintertag nichts tat, das zu ändern. Aber wahrscheinlich meinte der Hauptkommissar es grundsätzlich – oder er meinte all die Flecken, die man von hier nicht sah, zumindest heute nicht. Oder es war bloß eine Form von »Guten Tag«. Weshalb ich antwortete: »Ja, wirklich schön.«
    Remmelegg nickte und meinte, dass er froh sei.
    »Worüber?«
    »Wie souverän Sie das gelöst haben. Ich meine den Vorfall mit den beiden Streifenpolizisten. Die könnten jetzt tot sein. Oder Sie könnten tot sein. Oder wir hätten drei Verletzte, was das Schlimmste gewesen wäre.«
    »Was wäre das Beste?«
    »Lieber Herr Szirba, das Beste gibt es nicht. Es gibt nur das Bessere.«
    »Wäre es für Sie nicht besser, ich wäre tot?«
    »Ach, nicht wirklich. Meine Karriere wird wohl kaum den Bach hinuntergehen, wenn Sie am Leben bleiben. Vielleicht die Karriere anderer Leute.«
    »Sie werden mich also bloß verhaften?«
    »Nicht doch, Herr Szirba. Wäre ich sonst hierhergekommen?«
    »Ich verstehe nicht…«
    »Gehört doch Ihnen«, sagte Remmelegg und reichte mir den grünen Seidenschal, den ich eigentlich an meiner Hand vermutete. Meine Hand – die sich in der Kälte und im Schmerz offensichtlich zu einer gewissen Gefühllosigkeit entschlossen hatte – war jedoch nur noch von einem blutigen Verband unzureichend umgeben.
    »Wie konnten Sie wissen…?«
    »Wir waren gerade auf dem Weg zu den beiden Kollegen, die die Sache auf so wunderbare Weise versaut haben. Und hier in der Kurve, kurz vor dem Chineseneingang, habe ich den Schal liegen sehen.«
    »Sie müssen ein gutes Auge haben.«
    »Das empfiehlt sich auch. Ich bin aus dem Wagen gestiegen und habe die anderen weitergeschickt. Die kommen auch ganz gut ohne mich aus.«
    »Aber woher wussten Sie, dass der Schal mir gehört?«
    »Das ist Gerdas Schal. Unverkennbar. Wahrscheinlich besitzt sie einen ganzen Schrank davon. Das ist ihr Markenzeichen. Die heilige Gerda. Wem sie einen Schal vermacht, der steht unter ihrem Schutz. Sie dürfen stolz sein, Herr Szirba. Die Gerda geizt mit ihrem Schutz. Ich habe mir ja schon gedacht, dass Sie in die Psychiatrie geflüchtet sind, und bin gestern Abend hingefahren, um mich ein wenig zu informieren. Gerda redet mit mir. Die redet nicht mit jedem, schon gar nicht mit der Polizei. Aber sie kennt mich. Trotzdem, zu einem Schal habe ich es noch nicht gebracht. Leider Gottes, muss ich sagen.«
    »Sie haben von Stammheim erfahren?«
    »Ich mag Stammheim nicht. Die ganze

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