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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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auch wenn die Behörde in ihren warnenden Aufrufen so tat, als wäre sie fest entschlossen, mit diesem schlimmsten aller Gewohnheitsverbrechen aufzuräumen. Wer nichts angemeldet hatte, war verdächtig. Die Vorstellung eines rundfunklosen Haushalts war abwegig, ein solcher Haushalt eigentlich auch schon ein Verbrechen (sogar das Wesentlichere). Allerdings brauchte man die Kontrollorgane nicht in die Wohnung zu lassen. Die Freiheit des Bürgers war beträchtlich, abgesehen von der in seinem Kopf, wo noch immer Angst und Devotion regierten. Wie auch in meinem Fall. Deshalb standen die beiden Männer ja in meinem Zimmer, standen gewissermaßen mit ihren Straßenschuhen in meinem so liebevoll angerichteten samstäglichen Frühstück. Das Geheimpolizeiartige ihres Auftretens darf ihnen nicht übel genommen werden. Sie wären nicht weit gekommen in ihrem Beruf, wären sie vor den Türen stehen geblieben wie die Heiligen Drei Könige, um sich auf Diskussionen über das erschreckende Niveau der Fernsehprogramme einzulassen.
    »Kompliment, junger Mann«, sagte der, der das Sagen hatte, »das ergibt eine ordentliche Verwaltungsstrafe, die Sie da werden zahlen müssen.« Und zog einige Formulare aus seiner Mappe.
    »Meinen Sie also, alter Mann«, fauchte ich ihn an, unter Aufwendung meines ganzen außerparlamentarischen Mutes.
    »Oh, oh, oh«, entgegnete er, »das ist unklug, junger Mann, sehr unklug. Was meinen S’ denn? Dass ich Ihnen vielleicht entgegenkomm, wenn Sie sich solche Frechheiten herausnehmen? Na, da stell ich aber gleich auf stur.«
    »Höchststrafe!«, ließ der andere sich lachend vernehmen, noch immer die Hand am Fernseher, den Blick aber auf Angelika gerichtet, die unbeirrt weiter in ihrem Buch las und sich eine neue Zigarette anzündete. Dabei wirkte sie nicht etwa bemüht, sondern schien die Ruhe selbst, als wäre angesichts eines Ingolstädter Fegefeuers die lächerliche Wirklichkeit in diesem Zimmer belanglos.
    »Der Fernseher geht doch gar nicht«, bemühte ich mich, die Auseinandersetzung wieder ins Faktische zu ziehen. Was allerdings so nicht ganz stimmte. Von den zwei Programmen, mit denen man sich damals begnügen musste, empfing ich das eine unter schwersten Einbußen jeglicher Verständlichkeit, das andere jedoch war bloß durch eine gewisse Körnigkeit des Bildes beeinträchtigt. Was die beiden Herren aber ohnehin nicht interessierte. Der Apparat stand da, zudem befand sich im Schlafzimmer ein Radiowecker. Und ob in den Corpora Delicti noch Leben schlummerte oder nicht, war für das Festhalten meiner Schuld nicht von Bedeutung. Nachdem die Vergehen mit allen »schmutzigen« Details schriftlich festgehalten waren, sollte ich sie, meine Schuld, auch noch per Unterschrift bestätigen. Der Mann schob seine Lesebrille wieder den Nasenrücken hinunter, betrachtete mich gleichzeitig angewidert und belustigt und hielt mir das Papier an die Brust.
    »Unterschreiben Sie doch selbst«, sagte ich. Natürlich war das ein schwächlicher, nichtsdestoweniger unerlaubter Tiefschlag. Einerseits meine Weigerung an sich, andererseits der ironische Versuch, ein solches Kontrollorgan zur Fälschung einer Unterschrift zu animieren. Bekanntermaßen wird alles Ironische sehr unterschiedlich aufgefasst.
    »Jetzt reicht’s, du Kaschperl, depperter. Eine blöde Bemerkung noch und i…«
    »Schleicht’s euch!«
    Einen Moment herrschte völlige Stille. Oder eben eine Stille, die den idealen Hintergrund für eine einzige wesentliche Geräuschfolge bildete, die im tiefen Inhalieren des Tabakrauchs und im Ausstoßen desselben bestand. Angelikas »Schleicht’s euch« war nicht nur dem Inhalt nach beleidigend gewesen. Indem sie diese dialektale Phrase ohne jede dialektale Färbung gesprochen hatte, war eines klar geworden: dass sie, die Tochter aus besserem Hause, sich einer fremden, grässlichen Sprache nur bedient hatte, um die Barbaren aus dem Haus zu weisen. Und schon war diese Bademantelschönheit wieder in die Literatur versunken und rauchte, als wollte sie einen nikotinenen Schutzwall um sich errichten. Ein wenig kam mir der Gedanke, dass dieses »Schleicht’s euch« auch mir gegolten hatte, dem Liebhaber, Wohnungseigentümer und Lieferanten dieses prachtvollen Frühstücks.
    Der Mann, der das Sagen hatte und dem dieses Sagen zu entgleiten drohte, löste sich aus seiner Starre, ging zwei Schritte auf Angelika zu und sagte: »Hör’n S’ zu, Fräulein.« Aber das Fräulein hörte nicht zu, blieb in ihr Buch und ihre

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