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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Gedanken von der Grabnische jedoch dachte ich nicht noch einmal.
    Bötsch hatte mir die Waffe erklärt, wie man einem Kochanfänger die Funktion eines Küchengeräts erläutert. Ich entsicherte die Pistole, zog sie an die Brust, den Lauf auf Kinnhöhe. Dann hörte ich ihn schon. Es musste einer der Polizisten sein. Er keuchte, während ich mein eigenes Keuchen hinunterschluckte. Als Erstes sah ich den Lauf seiner Waffe, die wie ein manieristisch gedehntes Kinn in den Raum ragte. Ich stand so tief im Dunkel, dass er mich nicht gleich sah. Als es dann doch geschah, war seine eigene Waffe auf den Hofeingang am Ende des Flures gerichtet, während mein Schießinstrument so ungefähr auf seinen Kopf zielte.
    »Seien Sie doch vernünftig. Man kann doch reden.« Was hätte er auch sagen sollen.
    »Keine Chance«, erklärte ich und bat ihn, seine Waffe fallen zu lassen, dann würde ihm auch nichts geschehen. Das war natürlich eine laienhafte Aufforderung, das mit dem Fallenlassen. Ein Schuss hätte sich lösen können. Aber der Mann dachte mit und legte seine Pistole behutsam auf dem Boden ab.
    »Danke«, sagte ich und meinte damit auch seine Vorsicht.
    Man sieht also, dass derartige Situationen nicht immer in wilde Schießereien und unerquickliche Gespräche ausarten müssen. Woran sich nichts änderte, als nun auch der andere Polizist in den Hauseingang trat. Ich hatte seinen Schritt gehört, trat jetzt aus der Nische und hinter den Briefkästen hervor, sodass der Lauf meiner Pistole nur noch wenige Zentimeter vom Kopf des ersten Beamten entfernt und ein Verfehlen eher unwahrscheinlich war. Bemüht, jegliche Schärfe in der Stimme zu vermeiden, sagte ich zu dem anderen: »Legen Sie die Waffe weg. Und dann seien Sie so gut und kommen her. Vorsichtig.«
    Er machte keine Schwierigkeiten. Auch so ein junger Bursche, der weder das Leben seines Kollegen noch das eigene gefährden wollte. Das ist vielleicht das Problem der deutschen Polizei. Zu viele von ihren Leuten haben allein den Ehrgeiz, am Leben zu bleiben. Die meisten wollen einfach Geld verdienen und heiraten oder etwas in der Art. Und riskieren nichts, zumindest nichts, was nicht extra bezahlt wird. Die beiden hier, so war ich überzeugt, standen auf einer einzigen Gehaltsliste. Jener der Polizei, also einer eher traurigen.
    Dennoch fragte ich, als die zwei auf gleicher Höhe standen, wer sie geschickt hatte. Sie seien »die Polizei«, erklärten sie mir, als hielten sie mich für schwachsinnig.
    »Wir bringen Sie zurück«, meinte der Ältere in freundlichstem Tonfall, »und das da vergessen wir einfach.« Dabei blickte er auf meine Pistole und blinzelte mir zu, als wäre er mein Anwalt.
    »Geht nicht«, sagte ich, meinerseits verzweifelt, da ich nicht wusste, was ich mit den beiden anfangen sollte. Ich entschied mich für das Abgedroschenste, indem ich sie zum Treppenaufgang dirigierte und zwang, sich mittels ihrer Handschellen gegenseitig am Geländer festzumachen. Dann nahm ich ihnen die Schlüssel ab. Sie hätten mich zigmal ausschalten können. Andererseits hätte ich sie zigmal erschießen können.
    »Entschuldigung für alles«, sagte ich, als ich sie verließ. Ich meinte einen Anflug von Nachsicht in ihren Gesichtern zu lesen. Das waren genau die Leute, die man lieber bei einer Grillparty getroffen hätte.
    Ich steckte die Waffe zurück in die Tasche und setzte meinen Weg mit schnellem Schritt fort. Dabei kam ich an einer Kirche vorbei, der Erlöserkirche. Kein weiter aufregendes Gebäude. Dennoch kam mir der Gedanke, dass ich in all den Jahren viel zu wenig von Stuttgart gesehen hatte, in dieser Stadt aus eigenem Verschulden nie heimisch geworden war. In gewisser Weise holte ich das jetzt nach. Wer war schon je, selbst von den Einheimischen, in Stammheim gewesen? Und als ich nun die Birkenwaldstraße hinaufmarschierte, erreichte ich einen Ort, der mich regelrecht entzückte. Auf die Höhe eines innerstädtischen Weinberges hatte man einen chinesischen Garten gesetzt, mit einem kleinen tempelartigen Gebäude, einem Teich, in dem sich gebrochenes Eis befand, einer Steinbrücke, Figuren und einer überdachten Aussichtswarte in Form eines Glockenturms. Im Sommer mochte hier einiges los sein. Jetzt aber war ich der einzige Besucher, setzte mich auf eine Bank und schaute hinunter auf die City, die unter dem niedrigen, bedeckten Himmel leblos wirkte. Selbst die Kakophonie klang hier oben schwächlich, wie Wellen, die alles Gewaltige verloren hatten, als sie endlich an

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