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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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dass ausgerechnet eine Asperger Straße in das Gefängnis Stammheim mündete. Hätte man denn nicht einen Namen wählen können, der dem ganzen Unglück ein wenig an Schärfe nahm? Die Deutlichkeit der Architektur reichte vollauf. Während dieser Überlegungen gewahrte ich den Schriftzug auf der Scheibe, durch die ich gerade schaute, und las seitenverkehrt den Namen des Lokals, in dem ich saß: Stammheimer Freiheit. Das war doch irgendwie erfreulich, ein solcher Name, auch wenn der Raum kaum geeignet war, so etwas wie Freiheit zu vermitteln. Aus kleinen Wandöffnungen knapp unterhalb des Plafonds strömte jetzt eine Wärme, die etwas von einem Wüstenwind besaß und mich aus der »Freiheit« hinausekelte. Die Kellnerin mied meinen Blick, als ich bezahlte. Sie starrte beharrlich in ihre Geldbörse. Doch als ich das Lokal verließ, war ihr Gruß durchaus herzlich. Typisch Freiheit, dachte ich.
    Ich ging die Asperger Straße, diese wahrhafte Gefängnisstraße, ein Stück hinunter und stieg in eine Straßenbahn der Linie fünfzehn. Ich stellte mich in die Mitte des Wagens, stand da, meinen schmerzenden Arm in der Manteltasche vergraben, ausgestattet mit einem gültigen Fahrausweis und einer Pistole in der Umhängetasche, und fuhr wieder jenem Stuttgart entgegen, das auch wie Stuttgart aussah und nicht wie ein von der Moderne bloß leicht touchiertes württembergisches Dorf.
    Ich war mir durchaus bewusst, dass ich zur Fahndung ausgeschrieben war. Es gab wohl Leute, die wollten mich im Leichenschauhaus wissen. Daneben gab es vielleicht auch welche, deren alleinige Aufgabe darin bestand, mich ins Hauptstätter Hospital zurückzubringen. Jedenfalls hatte ich wenig Glück. Denn beim Pragfriedhof stiegen zwei Polizisten ein. Der Waggon war jetzt derart überfüllt, dass ich sie zu spät sah und nicht mehr herauskam. Ich arbeitete mich zum hinteren Ausgang durch und hielt meinen Kopf so, dass die Beamten mein Gesicht nicht sehen konnten. Meine verletzte und mit einem grünen Schal umwickelte Hand ließ ich in der Manteltasche verschwinden. Woraufhin sie mehr schmerzte denn je, als machte sie eine solche Verleugnung wütend. Ich hätte schreien mögen, auch wegen des inneren Zwangs, der mich dazu trieb, das alles durchzustehen. Als die Bahn in die nächste Station einfuhr, groteskerweise die des Hauptstätter Hospitals, wagte ich einen kurzen Blick. Genau den hätte ich mir sparen können. Mich trennten bloß vier, fünf zusammengepresste Fahrgäste von den beiden Polizisten, von denen einer mir nun direkt ins Gesicht starrte, und was er sah, erregte ihn. »Den Weg frei!«, rief er und versuchte an den Leuten vorbeizukommen. Beinahe erreichte mich seine Hand. Ein kleiner Ruck noch, und er würde mich erwischen. Da ging die Tür auf, und ich sprang hinaus. Ich spürte, wie der Beamte hinter mir ins Leere griff.
    Jetzt kam es also darauf an, was man in den Beinen hatte. Und ganz schlecht war es um meine Beine nicht bestellt. Vor Jahren hatte ich zu laufen begonnen, als ich mich alt genug fühlte, dem Alter etwas entgegenzusetzen. Und den Zigaretten und der Angst vor dem Fettwerden.
    Auch besaß ich den Vorteil, dass ich Laufschuhe trug, meine ewigen praktischen Begleiter. Ich rannte den Bahnsteig entlang und die Stufen hinauf. Hinter mir die Schreie der Polizisten. Die Passanten traten erschrocken zur Seite. Glücklicherweise gab es hier keinen Helden, der meinte, sich mir in den Weg werfen zu müssen. Ich gelangte ins Freie, bog in eine kleinere Straße ein, legte die erste Hektik ab, lief gleichmäßig rasch und erreichte das Hauptstätter Hospital. Über dem Haupteingang war ein gewaltiges rotes, folglich durch und durch russisch anmutendes Leinen gespannt, auf dem in weißen Lettern stand:
     
    Schach und Diktatur
    Das königliche Spiel in der Zwangsjacke
    13. Januar – 31. März 1999
    Eine Ausstellung? Dann wohl eine sehr plastische. Einen Moment überlegte ich, ob ich nochmals in der Anstalt, bei Frau Gerda, Unterschlupf suchen sollte. Aber der schrille Ton einer Pfeife trieb mich weiter. Ohne mich umzusehen, rannte ich in einen offenen Hauseingang. Der Flur – düster, herrschaftlich, ein wenig verfallen – wirkte eher wienerisch als stuttgarterisch. Hinter den Briefkästen befand sich eine kleine Einbuchtung in der Wand, gleich einer Grabnische für Stehende. Worin der eigentliche Zweck bestand, konnte ich nicht sagen. Ich drückte mich hinein und zog die Pistole aus der Tasche. Die Vertiefung passte wie angegossen. Den

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