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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Ich erwachte. Es herrschte eine relative Ruhe in der Stammheimer Turnhalle. Ein Geschnarche und Geschnaufe erfüllte den im Neonlicht grellen Raum. Alte Stammheimer Tradition: Niemals ging das Licht aus. Ich sah auf die Uhr. Sechs Uhr morgens. Ich trat über die Liegenden, die dicht gedrängt die gesamte Fläche der Halle ausfüllten. Ich dachte: Völkerball. Ohne auf jemanden getreten zu sein, erreichte ich die Toilettenanlage, die sich in einem überraschend sauberen Zustand befand. Was kein Wunder war. Zwei Frauen waren gerade dabei, den Boden aufzuwischen. Ich wartete, bis sie mit ihren Fetzen und Eimern und Chemikalien hinüber in die Damentoilette gewechselt waren. Manchmal denke ich, dass nichts uns Westeuropäer so sehr verbindet wie der Umstand, dass wir unsere Toiletten nicht selbst putzen. Vielleicht war das meine fixe Idee. Aber ich selbst und meine Frau hatten unser Klo nicht ein einziges Mal kraft eigener Anstrengung gereinigt, seit wir nach Stuttgart gezogen waren. Doch wenn ich es betrat, war es picobello, wie neu, eine warme, glänzende, jeden Gedanken an den eigentlichen Zweck auslöschende Fliesenidylle. Darüber wird natürlich nicht offen gesprochen, nicht im Büro, nicht im Freundeskreis. Schon gar nicht war das ein Thema zwischen mir und Marlinde. Dennoch bekam ich mit der Zeit den Eindruck, dass ich niemanden kannte, der sein Klo selbst putzte, die Küche vielleicht, manchmal, aber sicher nicht die Toilette.
    Und jetzt stand ich hier, in der Wohngrotte der letzten Linksradikalen, und was sah ich? Putzfrauen. Und genoss es auch gleich, als Erster von deren Arbeit profitieren zu können. Ich steckte den Kopf ins glänzende Waschbecken und ließ kaltes Wasser über meinen Schädel fließen. So lange, bis der neue Schmerz den alten Schmerz wie mit einer Klammer umgab. Dann richtete ich mich auf und betrachtete mein gerötetes, feuchtes Gesicht im blanken Spiegel. Was ich sah, gefiel mir. Nicht, dass ich über Nacht hübscher geworden war. Aber irgendetwas war aus meinem Gesicht herausgefallen. Es wirkte schlanker, karger, wie eine bäuerliche Stube, aus der man einen schweren Schrank und die Hirschgeweihe, nicht aber das Kreuz entfernt hatte.
    Gegen sieben machte ich mich daran, Heinz Neuper aufzuspüren, stelzte zwischen den Schlafenden umher, fand ihn aber nicht. Ich versuchte es im Geräteraum. Der Boxer saß auf einem niedrigen Stuhl, die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn auf die verschränkten Hände gestützt. Auf seinem Hemd zeichneten sich dunkle, feuchte Flecken ab. Er starrte auf ein Schachbrett vor sich, ebenso wie die Dame, die ihm gegenübersaß und ungebrochen ihren Hals bearbeitete. Bötsch stand in gebührender Entfernung und beobachtete das Spiel.
    »Heinz, wir haben zu tun«, sagte ich, nicht einmal sicher, was wir eigentlich zu tun hatten.
    »Seien Sie doch ruhig.« Bötsch war aufgesprungen und hielt mich davon ab, näher an Neuper heranzutreten. »Seine Dame, er wird seine Dame verlieren«, flüsterte mir der Parasitologe ins Ohr. Und es klang, als wäre nichts wichtiger als diese Dame, nichts tragischer als ihr wahrscheinliches Ausscheiden. Ich begriff das nicht. Menschen waren gestorben, nicht wenige, weitere konnten folgen. Bötsch war in Gefahr, Neuper ein Witwer auf Rachetrip, und dennoch war eine kleine, schwarze, hölzerne Dame in den Mittelpunkt gerückt. Bötsch schob mich aus dem Raum.
    »Er braucht absolute Ruhe«, erklärte Bötsch. »Gut, er wird die Dame verlieren. Aber nicht unbedingt das Spiel. Dieser Mann besitzt erstaunliche Qualitäten. Aber seine Nerven, seine Nerven sind das Problem. Einmal macht er einen genialen Zug, dann einen blödsinnigen. Er benötigt sein Genie, um die Folgen seiner Blödsinnigkeit zu kompensieren. Eine Tragödie.«
    »Der Mann hat seine Frau verloren«, rief ich, »wegen dieser Geschichte, wegen Ihrer Geschichte.«
    »Ich weiß, ich weiß. Ein Unglück, gar keine Frage. Aber was heißt hier ›meine Geschichte‹? Hätten Sie nicht darauf bestanden, mich zu retten…aber lassen wir das. Ich will Sie nur bitten, sich hier nicht einzumischen, nicht in dieses Spiel. Retten Sie Annegrete Holdenried. Schalten Sie den Bibelmenschen aus. Das ist Ihr Spiel, wenn ich so sagen darf.«
    »Das alles muss ein Albtraum sein«, erwiderte ich pathetisch und schüttelte den Kopf.
    »Bloß eine ungewöhnliche Woche«, meinte Bötsch, »und keine Woche fällt vom Himmel, sondern bereitet sich vor. Wer sich wundert, der wundert sich über seine

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