Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Zigarette vertieft. Weshalb der Mann seinen Arm ausstreckte und seine Hand auf ihre Schulter legte. Und auch wenn diese Handlung nicht eigentlich aggressiv war, eher dem ungelenken Versuch glich, eine Schlafende wach zu rütteln, ging er einen Schritt zu weit. Angelika war nun mal nicht das Fernsehgerät, auf dem er mit vollem Recht seine Hand platzieren konnte. Mit einer raschen, kurzen Bewegung machte Angelika sich frei und zischte den Mann an – etwas von wegen, dass er alt sei, ein Kretin, seine Hand dreckig und dass ihr Vater ein hohes Tier in der Polizeidirektion Wien sei. Das mit ihrem Vater war mir vollkommen neu. Ihr nächster Blick traf mich, ein Blick der Verachtung, wohl dafür, dass sie gezwungen war, ihren Vater ins Spiel zu bringen, weil ich – der Mann im Pyjama, der Mann in weiten Hosen – unfähig war, sie vor der Belästigung solcher visitierender Kreaturen zu beschützen. Dieser Blick tat weh. Er machte mir klar, dass Angelika nichts von Männern hielt, die sich allein auf die Zubereitung von Frühstücken verstanden. Angstvoll überlegte ich, dass vielleicht genau darin meine einzige wirkliche Qualität bestand, im Frühstückbereiten (obwohl erst zwanzig, ahnte ich bereits, dass ich ein Architekt ohne Architektur werden würde). Und wie um meinem Schicksal zu entgehen, meinte ich nun, den Wilden spielen zu müssen, stürzte mich auf den Mann, der Angelika angefasst hatte, packte ihn am Mantelkragen und schob ihn durchs Zimmer, bis er mit dem Rücken gegen einen Türstock krachte. Ich hätte Lust gehabt, ihn ein wenig in die Höhe zu drücken. Doch Wut macht vielleicht verrückt, aber sie versetzt keine Berge. Der Kerl wog sicher an die achtzig Kilo. Und es war mein Glück, dass er in seiner Verdutztheit nicht auf die Idee kam, sich zu wehren. Wie auch sein Kollege sich nicht rührte, als wäre er längst am Fernsehgerät festgewachsen.
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte Angelika, legte das Buch zur Seite und drückte die Zigarette aus. »Du bist ja noch ein halbes Kind.« Dann stand sie auf, schob die Teile ihres Bademantels ineinander und ging hinüber ins Schlafzimmer. Die Tür sperrte sie ab. Das Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels lärmte quälend lange durch meine Gehörgänge. Dabei sah ich dem Mann, den ich noch immer festhielt, in die Augen. Zwischen uns war nur seine Lesebrille. Ich erkannte sein echtes Bedauern. – Jetzt fiel mir alles wieder ein. Dass sich Angelika von mir trennen würde. Dass ihr Vater Jahre später eine ziemlich unglückliche und viel diskutierte Figur machen würde. Dass ich noch wochenlang Angst haben würde vor einer Anzeige wegen meines Übergriffs. Zudem entwickelte ich paranoide Züge. Erwartete einen groß angelegten Rachefeldzug der Gebühreneintreiber und wagte mich nicht an die Tür, wenn es läutete. Aber die Wirklichkeit erwies sich als undramatisch und freundlich. Ich sah die beiden Männer nie wieder, nachdem sie ohne ein Wort – vielleicht meine anbrechende Verrücktheit fürchtend – gegangen waren. Und auch sonst rührte sich der Rundfunk nicht (wofür ich hier ausdrücklich danken möchte). Man ließ mir meine Geräte, duldete meine Nichtanmeldung, verzieh mir sämtliche Untaten. Dass ich wenig später Marlinde kennenlernte, die Fernsehjournalistin, und auch den Umstand, dass das Fernsehen immer schlechter wurde, empfinde ich natürlich nicht als Strafe. Das wäre lächerlich. So wie es überhaupt lächerlich ist, sich über das Fernsehen aufzuregen. Manche Dinge sind übel, weil es in der Natur der Sache liegt. Wollte man dem Regen vorhalten, dass er nass ist, oder dem Unkraut, dass es wächst?
Jetzt aber – in dieser Wiederholung der Wirklichkeit – stand ich noch immer neben meinem sinnlos gewordenen Frühstück, hielt den Mann am Kragen und erkannte sein Mitleid. Und ließ ihn endlich los. Auch weil ich spürte, wie ich den Boden unter den Füßen verlor, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Ich tauchte durch den Boden ab, fiel in die darunter liegende Wohnung, weiter in den Keller und dann in die Erde, also doch in ein Grab, wenn auch kein Ehrengrab. Allerdings blieb ich auch hier nicht stecken, sondern glitt fortgesetzt durch das Innere, passierte den Mittelpunkt der Erde, den ich mir, ehrlich gesagt, etwas pompöser vorgestellt hatte. Andererseits, was sollte aus ein paar Nickel- und Eisenverbindungen auch schon Großartiges entstehen. Während ich am Mittelpunkt vorbeiflog, schlief ich ein.
Anders gesagt:
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