Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
es zu stören. Sie zeigte mir ihren Rücken. Aber sie ließ mich ein.
Ich weiß: In Geschichten, geschriebenen Geschichten, ob sie nun die Realität meinen oder nicht, zieht nie jemand seine Schuhe aus, während im wirklichen Leben der Mensch beim Betreten einer jeden Wohnung, ganz gleich in welcher Funktion er sie betritt, zum Ausziehen seiner Schuhe gezwungen wird. So bedeutend kann die eintreffende Person gar nicht sein, dass man ihr nicht unförmige, stinkende Filzpantoffeln anbietet. Im Roman oder im Film jedoch marschieren die Menschen mit ihrem verdreckten Schuhwerk durch eigene und fremde Wohnungen, als gebe es keine lebendige Alltagskultur. Die Wirklichkeit hingegen bedeutet: Schuhe ausziehen.
Genau das wollte ich eben tun, weshalb ich auf einem Vorzimmerstuhl Platz nahm und mich schwer atmend dem Boden entgegenbeugte. Doch Frau Bötsch rief mir zu, ich könne das bleiben lassen. Männer ohne Schuhe, vor allem dicke Männer ohne Schuhe, besäßen eine Hilflosigkeit, die nichts Anrührendes besitze, sondern würdelos wirke. Mein Gott, wie recht diese Frau hatte.
Ich folgte ihr in ein großes, helles Zimmer, einen Raum für Pflanzen. Aber es gab keine Pflanzen. Es gab nur schwere, dunkle Möbel, die gut in eine Kirche gepasst hätten und nur zu ertragen waren, weil jedes Objekt genügend Platz besaß. Irgendein Hund, ein kalbsgroßer Hund, trabte grizzlyartig herein, beäugte mich kurz, als wäre ich weder Freund noch Feind, sondern einfach uninteressant, und verschwand wieder.
Ich schaute mich um. In einem breiten Glasschrank standen fünf, sechs Gewehre.
»Sie jagen?«, fragte ich.
»Ein dummer Sport. Aber die Waffe im Haus erspart mir gewisse Albträume.«
Für ängstlich hatte ich die Dame eigentlich nicht gehalten. Immerhin, die eigenen Träume im Griff zu haben, war auch etwas wert.
Wir nahmen Platz. Frau Bötsch schenkte Cognac in Gläser, in denen man eine Familienpackung Eis hätte unterbringen können. Wir unterließen es, uns zuzuprosten. Dazu war der Anlass zu ernst.
»Also, Herr Joop, Sie…sind mit diesem komischen Schneider verwandt?«
»Jooß. Ludwig Jooß aus Johannesburg. Ich suche Ihren Mann.«
»Da sind Sie nicht der Einzige. Sie haben ja den Wagen gesehen. Und eine ganze Menge Leute haben hier angerufen. Mein Mann ist Dienstagabend nicht nach Hause gekommen. Seither ist er verschwunden. Und seither scheint er überaus beliebt zu sein. Oder sagen wir besser: gefragt.«
»Hat er sich bei Ihnen gemeldet?«
»Das geht Sie zwar nichts an, aber damit Sie Frieden geben: Hat er nicht. Was wollen Sie eigentlich von ihm? Was wollt ihr alle?«
»Ihr Mann ist in Gefahr.«
»Und Sie wollen ihn retten?«
»Das nun nicht gerade. Aber ich wäre zufrieden, wenn ich sicher sein könnte, dass er sich versteckt hält und dies die nächsten Tage bleibt. Und nicht denkt, er müsse sich in gewisse Dinge mischen.«
»Was für Dinge?«
»Geschäfte. Politik. Dinge, von denen er nichts versteht.«
»Wem sagen Sie das! Berthold ist Wissenschaftler, ein möglicherweise hervorragender Wissenschaftler. Aber naiver kann ein Mensch nicht sein. Er sieht aus wie ein Herrenreiter. Aber er ist ein kleiner Junge. Brillant, aber eben ein Junge, der zwischen erwachsenen Hyänen herumtollt und meint, sie würden ihn nicht beißen. Jetzt beißen sie. Hat es mit seiner Forschung zu tun?«
»Haben Sie Zeit, Frau Bötsch?«
»Wofür?«
»Erzählen Sie mir von seiner Forschung. Was das betrifft, bin ich ahnungslos. Es würde mich interessieren.«
»Ich weiß gar nicht, warum ich Sie nicht hinauswerfe.«
»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen.«
Frau Bötsch war eine Dame, die sich unwohl fühlte, wenn sie jemanden sympathisch fand. Letztendlich führt die meiste Sympathie zu irgendeiner Form von Einbindung, von Nähe, die man später einmal bitter bereut, da eine Nähe leicht entsteht, aber nur schwer aufzulösen ist. In jedem Fall: Ich war mir sicher, dass ich ihr sympathisch war, zumindest solange ich Schuhe trug.
»Kaffee?«, fragte sie.
Ich nickte. Lächelte dümmlich. Plötzlich kam mir die Situation geschmacklos vor, als hätte ich auf die Annonce einer Witwe geantwortet. Ein Prachtweib in ihrer Prachtvilla, die ich nun mit meinem hundert Kilo schweren Charme zu betören versuchte. Aber was soll’s. Ich hatte Zeit. Auch für Blödheiten.
Während sie in der Küche war, ging ich ans Fenster, schaute hinunter. Die beiden Männer waren ausgestiegen. Ein bescheidenes Bündel Sonnenstrahlen zielte genau
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