Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
dorthin, wo sie standen. Wie auf einem christlichen Gemälde. Was nichts daran änderte, dass die beiden auch außerhalb ihres Wagens nach teils verkohltem, teils metallisiertem Fleisch aussahen. Ich trat in den Raum zurück, betrachtete die alten Stiche an der Wand, Stadtbilder von Reutlingen, Allegorien, eine kleine Zeichnung Wilhelm Buschs. Ich mimte – als Frau Bötsch mit dem Service eintrat – den Kunstinteressierten, der sich gar nicht trennen konnte von den grafischen Kostbarkeiten. In Wirklichkeit war ich froh, als ich wieder saß, das Aroma des Kaffees inhalierte und nun also erfuhr, worin die Forschung des Professor Bötsch bestand.
Sein vorrangiger Eifer galt seit einigen Jahren einem Wesen, das als Kleiner Leberegel bezeichnet wird, ein Parasit, der dadurch fasziniert, dass er gleich bei drei Wirten einkehrt: Schaf, Schnecke und Ameise.
Der Kleine Leberegel geht nun folgendermaßen vor: Als ausgewachsener und dennoch bloß einen Zentimeter großer Schmarotzer treibt er sich in den Gallengängen von Schafslebern herum, warum auch nicht. Man kann sich eine Schafsleber als einen durchaus gemütlichen Ort vorstellen. An diesem Ort verhält der Egel sich noch konventionell, indem er Eier ablegt, die dank der Gallenflüssigkeit in den Schafsdarm und in der Folge ins Freie flutschen, gewissermaßen direkt ins Maul irgendeiner verfressenen Landschnecke. In dieser schlüpfen Larven, die durch das Darmepithel dringen und sich dreimal umkleiden, um schließlich als sogenannte Cercarien in die Atemhöhle der Schnecke zu rudern und sich dort so lange ungehobelt aufzuführen (schlichtweg durch Aufspaltung von Eiweißkörpern in Aminosäuren), bis sich das gereizte Lungenepithel der Schnecke zur Produktion von Schleimballen entschließt, so eine Art Überlebenskapseln, in denen die Cercarien ausgeschieden werden.
Das alles ist nicht weiter aufregend, ein Allerweltsschicksal. Aber jetzt wird die Sache spannend, exklusiv. Gewisse Ameisen legen nämlich das Verhalten menschlicher Gourmets an den Tag, von Leuten also, die sich in erster Linie an der bizarren Gestaltung der Speisen und einer abwegigen Delikatessierung von allem und jedem orientieren und die bereit sind, auch Scheiße zu essen, wenn sie nur hübsch verpackt ist, eben nicht die offensichtliche, fladenartige, endgültig zu Tode gebratene Scheiße zwischen zwei Brötchenteilen, sondern etwa jene in Reisblattmäntel gehüllte und mit Schnittlauch verschnürte. Derart konditionierte Ameisen fressen die lecker anzusehenden Schleimballen und müssen bald erkennen, dass nicht alles adrett ist, was in einer adretten Hülle steckt – das alte Kundenproblem. Wieder einmal durchdringen Cercarien ein Darmepithel. Und indem primäre und sekundäre Leibeshöhle verschmelzen, dürfen sie sich Metacercarien nennen. Eine einzige Cercarie jedoch, die nicht ganz zu Unrecht als »Hirnwurm« bezeichnet wird, marschiert nach vorn, wo sie sich nun aber keineswegs – wie es immer wieder von Laien dargestellt wird – wie ein Berserker durch den Ameisenschädel frisst. Vielmehr siedelt sich dieser Hirnwurm in einem unterhalb des Schlunds befindlichen und aus Nervenknoten gezimmerten Komplex an. Von dort besitzt er einen idealen Zugriff auf das Zerebralganglion der Ameise, was bei Weitem besser klingt, als wenn man dazu Ameisenhirn sagt. Ein Zugriff, der auch prompt genutzt wird, indem der Hirnwurm sich in die konzentrierte Ganglienmasse einschaltet und diese auf eine geglückt hinterhältige Weise manipuliert. Die Ameise verhält sich mit einem Mal wie ferngesteuert und durchbricht ihre Routine, was ja für diesen disziplinierten Gliederfüßer Ungeheuerliches darstellt. Geradeso, als hätte sie alles Soldatisch-Werktätige satt, kehrt sie nicht wieder in ihren Bau zurück, sondern zieht durch die Nacht, die ja eher kalt denn warm ist. Könnte die Ameise bereuen, würde sie es. Vielleicht tut sie es sogar. Wie auch immer, in dieser ganzen unseligen Situation klettert die Ameise hinauf zur Spitze eines Grashalms, wo sie … wir würden sagen: sich vor lauter Wut in die Pflanze verbeißt und nicht mehr damit aufhört. Man ahnt es: Dort, wo die Pflanze steht, ist der Ort, an dem Schafe weiden, für deren Darm es keine Schwierigkeit darstellt, eine Ameise zu verdauen. Dumm nur, dass jetzt genau das geschieht, was Pessimisten nicht überraschen wird. Hat das Schaf einmal die Ameise verschluckt, gehen die Metacercarien frei und immigrieren über den Galleneingang in die Schafsleber.
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