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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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sie herab.
    Vor Schreck hatte sie vergessen zu atmen. Jetzt rang sie verzweifelt nach Luft und stieß dabei den Schrei aus, der sich so lange in ihr aufgestaut hatte.
    Da begann sich die Wolke zusammenzuziehen und nahm ganz langsam wieder Form an. Die verschwommenen Umrisse lösten sich entweder in Luft auf oder verdichteten sich nach und nach wieder zu menschlichen Armen und Beinen. Vor ihren Augen materialisierte sich der Mann von eben, und als seine Konturen wieder klar definiert waren, blinzelte er und begann zu husten. Dann schwankte er, krümmte sich vornüber und erbrach einen Schwall kristallklares Wasser ins Gras.
    Er wimmerte und Elsa wurde klar, dass ihm ihre Gegenwart bewusst geworden war und dann, gleich darauf, die Tatsache, dass er vollkommen nackt war. Es dauerte einen Moment – sie war noch immer starr vor Schreck –, bis ihr Gespür für Anstand so weit wiederhergestellt war, dass sie sich zumindest abwandte, während er seine Kleider aufsammelte. Sie hörte das Schmatzen seiner durchnässten Jeans, als er sie anzog.
    Sie drehte sich wieder zu ihm um und sah, dass er sein Hemd zuknöpfte. »Äh …«, begann sie, doch sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Äh, was …« Ihr Herz wummerte. »Was war das gerade?«
    Er antwortete nicht. Er sah aus, als wüsste er nicht, wie.
    »Was, ich meine … Mein Gott, ist alles in Ordnung mit dir?«
    Er nickte. Dann leckte er sich über die Lippen. Seine Augen waren grau und vom düsteren Violett einer Gewitterwolke durchsetzt. »Ich kann das nicht erklären.«
    Mit offenem Mund starrte sie ihn an. Sie fand durchaus, dass ihr eine Erklärung zustand. Ein Regentropfen hing an seinem Kinn. Zwei weitere an seinen Ohrläppchen. »Sag mir«, stammelte sie, »dass ich nicht den Verstand verloren habe.«
    Er blickte unbehaglich ins Gras hinunter, dessen Halme so viele aufgefangene Regentropfen balancierten, dass es wirkte, als wäre zu seinen Füßen eine Diamantkette zersprungen. »Ich kann dazu nichts sagen«, murmelte er.
    »Aber … aber … ich hab gesehen, wie du …«
    »Ich habe losgelassen. Bitte, jetzt weißt du es. Ich habe losgelassen. Und dann habe ich gehört, wie du mich gerufen hast, und darum bin ich zurückgekommen.«
    Der Tropfen an seinem Kinn löste sich und zerplatzte auf einer seiner kaputten Schuhkappen. Hinter ihm, hoch am Himmel, zog ein kleiner Wolkenfetzen Richtung Norden, auf die scharfkantigen Zähne des Devil’s Diadem zu.
    Vor einem Moment, dachte Elsa, warst du genauso eine Wolke wie diese da.
    »Ich verstehe das nicht«, sagte sie.
    Er biss sich auf die Lippe. »Ich weiß nicht, ob wir dieses Gespräch überhaupt führen sollten. Du solltest gar nicht mit mir reden. Wir sollten Angst voreinander haben.«
    Sie presste beide Hände auf ihr hämmerndes Herz. »Ich habe Angst!«
    Er schien in sich zusammenzusacken. Geknickt blickte er sie an. »Wirklich? Einen Moment lang dachte ich, du hättest keine. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Bin ich wirklich so furchterregend?«
    Elsa wurde schwindelig und sie musste sich hinsetzen und eine Weile ins Gras starren, wo sich eine winzige goldene Ameise durch einen grünen Halm knabberte. In diesem Augenblick kam ihr die Welt so grenzenlos vor, wie sie einem Insekt erscheinen musste. »Ich bin verrückt geworden, oder?«
    »Nein. Ich hab’s dir doch gerade erklärt. Ich habe losgelassen.« Er wartete kurz ab und begann dann, nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten. Als er das nächste Mal etwas sagte, klang seine Stimme besorgt. »Bitte erzähl niemandem in Thunderstown, dass du mir begegnet bist.«
    Sie rieb sich die Augen. »Ich dachte, ich hätte eben gesehen, wie du dich in eine Wolke verwandelt hast.«
    »Ja. Ja, genau das hast du auch gesehen. Und jetzt musst du mir versprechen, dass du niemandem davon erzählst.«
    »Ich kann mir kaum vorstellen, dass mir das irgendjemand glauben würde.«
    »Vielleicht doch. In Thunderstown schon. Und dann machen sie sich vielleicht auf die Suche nach mir.« Nervosität schlich sich in seine Stimme. »Ich sollte jetzt gehen.« Er zögerte kurz, dann drehte er sich um und marschierte los.
    »Warte!«
    Er sah sich zu ihr um.
    Elsa stand auf. »Du kannst doch nicht einfach gehen!«
    Er blickte sie traurig an und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, dann aber wandte er sich wieder ab und ging weiter über die Wiese davon.
    »Hey! Warte! Hey! « Sie stapfte ihm hinterher. »Was soll ich denn jetzt machen?«
    »Lass … lass

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