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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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gegangen.«
    Er gluckste. »Mach dir keine Sorgen. Wenn du nämlich noch länger hier stehen bleibst und dir den Kopf zerbrichst, kommst du zu spät zur Arbeit.«
    Sie lächelten einander an, dann zog Elsa los ins Büro. Unterwegs spukte ihr wieder ununterbrochen der Wolkenmann aus den Bergen durch die Gedanken. Bei der Arbeit bekam sie dann reichlich Gelegenheit, ihre Bekanntschaft mit dem Kopierer zu vertiefen, aber in der Mittagspause suchte sie sich eine Bank auf dem Kirchplatz und zog die Karte aus ihrer Tasche, mit deren Hilfe sie die verfallene Windmühle auf dem Old Colp gefunden hatte. Heute Abend würde sie besser vorbereitet sein und die Kate wiederfinden.
    Sobald sie am Nachmittag das Büro verlassen hatte, schlüpfte Elsa in ihre Sneakers und machte sich auf den Weg den Berg hinauf. Je weiter sie nach oben gelangte, desto stiller schien es zu werden. Das braune Berggras und das wuchernde Heidekraut standen so reglos wie die Reihen von Felsbrocken, die jeden Grat säumten. Der Himmel leuchtete zinnblau und war im Norden mit diagonalen Wolkenstreifen verhangen. Über ihrem Kopf stieß ein Greifvogel einen Schrei aus, schrill wie eine Sirene. Als Elsa aufblickte, sah sie gerade noch, wie ein schwarzer Pfeil sich mit tödlicher Präzision auf ein bemitleidenswertes Tier am Boden stürzte.
    Als sie die Ruine der Windmühle erreichte, blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Sie fand die Stelle auf der Wiese, an der sich der Mann zuerst in eine Wolke und dann in Regen verwandelt hatte, und bildete sich ein, dass das Gras dort einen Hauch grüner war. Nach ihrem hastigen Aufstieg war der Gedanke an die kühle Frische von Wasser verlockend, aber sie war schon zu weit gekommen, um sich mit Träumereien aufzuhalten. Sie machte sich auf den Weg in die Schlucht, durch die sie dem Mann gefolgt war, und stand schon wenig später vor der kleinen Kate.
    Vor der Tür blieb Elsa stehen und legte einen Moment lang die Fingerspitzen auf das weiß gestrichene Holz. Sie musste sich erst beruhigen, bevor sie klopfen konnte, denn jetzt, da sie tatsächlich hier war, machte sie die Vorstellung, ihm gegenüberzustehen, ziemlich nervös. Sie brauchte einen Augenblick, um ihrer Gefühle Herr zu werden, denn ihr Instinkt drängte sie, entweder kehrtzumachen und den Berg hinunter nach Hause zu rennen oder direkt in die Hütte zu stürmen und Antworten zu verlangen. Sie musste besonnen vorgehen und das war noch nie eine ihrer Stärken gewesen.
    Sie pochte mit den Fingerknöcheln leicht gegen das Holz. Ihre Füße scharrten nervös auf der Schwelle, als sich die Tür öffnete.
    Seine Augen wurden groß, als er sie sah. Eine seltsame Blässe aus Licht und Schatten schien über sein haarloses Gesicht zu huschen, wie der Schatten einer Wolke, die über ein Feld hinwegzog. Wieder staunte Elsa über seine Größe und das seltsame Fehlen jeglicher Pigmentierung, so als hätte er kein Blut in den Adern, das durch seine Haut schimmern konnte.
    Er sah aus, als hätte er am liebsten die Flucht ergriffen und sich irgendwo versteckt, doch zu ihrer Zufriedenheit bemerkte Elsa, dass sie ihm dafür den Weg versperrte.
    »Hey«, sagte sie.
    »Du.«
    »Ja. Ich.«
    Er wollte die Tür schließen, aber Elsa trat blitzschnell vor und blockierte sie. »Warte! Bitte. Es tut mir leid, dass ich dich so überfalle.«
    »Warum bist du dann hergekommen?«
    Sie mochte seine Stimme. Jedes seiner Worte war wie der trockene Luftstoß, mit dem man eine Kerze ausblies. »Ich will … Ich will einfach nur wissen, was ich da gesehen habe.«
    »Es ist besser für dich, wenn du es nicht weißt.«
    Sie schluckte. »Dann wirst du mich noch ziemlich oft hier oben sehen.«
    Seufzend blickte er an ihr vorbei auf die Berge. Er trug dieselben kaputten Schuhe wie bei ihrer ersten Begegnung, eine Jeans, deren blauer Stoff beinahe zu Weiß verblichen war, und ein Hemd, das vielleicht einmal rot oder orangefarben gewesen war, mit der Zeit aber ein blasses Gelb angenommen hatte.
    »Bist du allein?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Okay … Aber als Erstes musst du mir etwas versprechen. Wenn ich dir alles erzähle, was ich weiß, lässt du mich dann in Ruhe?«
    »Klar. Versprochen.«
    »Und versprichst du mir auch, keiner Menschenseele etwas davon zu verraten?«
    »Okay, das verspreche ich dir auch. In Thunderstown kenne ich sowieso nur eine einzige Person.«
    Er nickte. Doch gleich darauf blickte er sie verwirrt an. »Warte … du bist gar nicht aus Thunderstown?«
    »New York.«
    Sein

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