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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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hatte ich irgendwie immer das Gefühl, dass mein Leben … einfach über mich hereinbricht. Es war, als könnte ich nicht selbst darüber bestimmen, sondern hätte gar keine andere Wahl, als einfach loszugehen und es zu leben. Und dann sind Anfang dieses Jahres ein paar Sachen passiert, durch die ich erkannt habe, dass ich mein Leben selbst bestimmen will, dass ich der Mensch sein will, für den ich mich halte. Darum bin ich wahrscheinlich hergekommen, weil ich glaube, dass ich hier genug Raum habe, um diesen Menschen in mir zu finden.«
    Lily blickte sie an wie jemanden, der den Verstand verloren hatte.
    Als Elsa am Ende dieses Tages das Büro verließ, lag der Schatten des Uhrenturms über der Straße. Müde schlenderte sie über den Sankt-Erasmus-Platz und setzte sich dort auf eine der Holzbänke mit Blick auf die Kirche. Die heiße Abendluft war von Staubschwaden durchsetzt, die die Dächer unscharf und den Himmel verbraucht und matt erscheinen ließen.
    Sie war erschöpft und hätte sich am liebsten mitten auf dem Platz zum Schlafen ausgestreckt, doch sie war fest entschlossen, diesen angebrochenen, vom Duft nach Holzfeuern erfüllten Abend zu nutzen. Sie stand auf und ging einfach los, bis sie vor einer Kneipe mit dem Namen The Brook Horse landete, die sich über fünf Stockwerke erstreckte. Über der Tür hing ein prächtiges, handgemaltes Schild, das ein unter Wasser schwimmendes Pferd mit wallender Mähne zeigte. Ein Netz feiner Haarrisse hatte die Farbe aufgebrochen, doch das tiefe Blaugrün des Wassers schien trotzdem zu leuchten. Das Pferd auf dem Bild war kein gewöhnliches Pferd. Anstelle von Hinterbeinen verjüngte sich sein Körper zu dem eines Fisches mit einem fächerartigen Schwanz, der es elegant durch die Strömung gleiten ließ.
    Auf jeder Etage der Kneipe befand sich ein winziges Kämmerchen, das durch wacklige Wendeltreppen mit den anderen verbunden war. Im Erdgeschoss nippte eine Gruppe junger Mädchen, an die in den Staaten niemals Alkohol ausgeschenkt worden wäre, an Gläsern mit zähflüssig aussehendem Bier und im ersten Stock saß eine Frau mit einem fadenscheinigen Schultertuch hinter einer Flasche Wein und nähte. Die oberste Etage ging in einen schiefen Balkon über, auf dem Elsa sich schließlich einen Platz suchte, um von dort aus zu beobachten, wie die dunstige Hitze die scharfen Konturen von Dächern und Schornsteinen schmirgelte. In der Ferne war die Luft von Staub erfüllt und von den vier Bergen war nur der Old Colp dunkel genug, um sich hinter dem Schleier abzuzeichnen.
    Elsa blickte über die Straße. Eine Wetterfahne knarzte und drehte sich nach Westen. In einer Regenrinne pickte eine Krähe an etwas Gelbgefiedertem herum. Ein Stück weiter zupfte der Wind an einer Ladung Wäsche, die auf einer Leine zwischen zwei Hausdächern hing. Er löste einen Hemdsärmel und brachte ihn zum Flattern, wie um Elsa zuzuwinken.
    Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. Mit einem Mal überkam sie Unruhe bei dem Gedanken an die Magie, die sie am Tag zuvor beobachtet hatte. Ein Mann hatte sich vor ihren Augen in eine Wolke verwandelt und geregnet. Sie hätte die Tür dieser Kate eintreten sollen, um Antworten zu bekommen, aber stattdessen war sie zurück nach Thunderstown gerannt und hatte acht Stunden lang irgendwelche Akten kopiert. Sie musste dorthin zurück. Sie musste es wissen.
    * * *
    Entschlossenen Schrittes machte sie sich auf den Weg, hinaus aus der Stadt und die zerfurchten Hänge des Old Colp hinauf. Sie dachte an all die Fragen, die sie dem Mann stellen würde. Sie überlegte, ob er sich wohl wieder in eine Wolke verwandeln würde. Dann, plötzlich, wurde ihr bewusst, dass sie sich verlaufen hatte.
    Elsas Entschlossenheit geriet ins Wanken. Sie blieb so abrupt stehen, dass sie beinahe gestolpert wäre. Sie hatte angenommen, dass sie den Weg wiedererkennen würde, die Steinbrocken und die ausgemergelten Bäume, gekrümmt wie Wegweiser, doch an den Ausblick, der sich ihr nun bot, konnte sie sich nicht erinnern: ein weites Tal voller verwitterter Felsen und dahinter die spitzen Ausläufer des Devil’s Diadem. Als sie den Weg zurückblickte, den sie gekommen war, erstreckte sich vor ihr eine Landschaft ohne Orientierungspunkte. Es würde jeden Moment dunkel werden, also machte sie widerwillig kehrt, um ihre Schritte zurück nach Thunderstown zu lenken. Nach einer Weile jedoch musste sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sich der Weg am Boden eines Tals gabelte und sie keine

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