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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Mund formte ein O. »Entschuldige, wahrscheinlich hätte ich das an deinem Akzent erkennen müssen. Aber ich bekomme hier oben nicht besonders viele Stimmen zu hören und schon gar keine aus New York.«
    »Eigentlich habe ich eher einen Oklahoma-Akzent. Da bin ich aufgewachsen.«
    Er sah sie verständnislos an. »Okla-was?«
    »Homa«, erwiderte sie, ohne ihre Belustigung darüber verbergen zu können, dass ihm der Name nichts sagte. Es erfüllte sie mit der prickelnden Gewissheit, dass sie so weit von zu Hause fort war, wie sie es den ganzen Sommer über gehofft hatte.
    »Du solltest besser reinkommen.« Er trat zurück in die Kate und bedeutete ihr mit einem Wink, ihm zu folgen. Sie zögerte einen Moment auf der Schwelle und machte dann einen Schritt nach vorn, der sich wie ein Sprung ins Ungewisse anfühlte.
    Die niedrige Decke des Häuschens und die eng stehenden Wände ließen seine ursprüngliche Funktion als einfache Schutzhütte erahnen. Der Hauptraum war nicht größer als Elsas Schlafzimmer in Kenneths Haus und doch war darin neben einer kleinen Kochnische noch Platz für zwei hölzerne Stühle und einen Tisch. Auf der gegenüberliegenden Seite gab eine Tür den Blick auf ein Badezimmer frei und an einer der Wände führte eine hölzerne Stufenleiter auf den Speicher, der als Schlafzimmer dienen musste.
    Doch es waren die Papierfiguren, die Elsas Blick gefangen hielten. Schon als sie durch das Fenster hereingespäht hatte, war ihr die schiere Menge und Vielfältigkeit aufgefallen, doch jetzt, im Inneren der Kate, entdeckte sie noch weitere. Neben den unzähligen Papiervögeln, die als Mobiles von der Decke hingen – und die nun im Luftzug der Tür flatterten wie echte Falken, die versuchten, den Aufwind zu nutzen –, war jeder Winkel des Raums von weiteren Tieren aus Papier bevölkert. Auf Regalbrettern, in denen in anderen Häusern Bücher oder gerahmte Fotos gestanden hätten, posierten stolze Papierpferde und Papierhunde zwischen Papierbäumen, denen winzige Blätter aus Papierästen wuchsen. Auf dem Tisch lagen Stapel noch ungefalteter Zettel und es sah aus, als hätte sie ihn bei der Arbeit gestört, denn daneben lag eine Figur, mit der er gerade beschäftigt gewesen sein musste: ein halb fertiges Tier, das Elsa nicht erkannte.
    Er zog einen Stuhl für sie hervor und setzte sich ihr dann gegenüber. Er war so groß, dass der Stuhl unter ihm aussah, als wäre er für ein Kind gedacht, und doch schien er so gewichtslos darauf zu sitzen wie ein Luftballon. Einen Moment lang musterte er sie und sein Blick war so direkt, wie Elsa es noch nie erlebt hatte. Wenn jemand in New York sie so angesehen hätte, wäre sie vermutlich ausgerastet und hätte ihn angefaucht, er solle gefälligst nicht so glotzen, doch in seinem Blick lag eine absolut unschuldige Neugier. Er wirkte in dieser Hütte so unbefangen wie ein Tier in seinem Bau.
    Nach einer Weile trafen sich ihre Blicke und Elsa fiel abermals auf, dass seine Augen von einem sturmartigen Violett durchzogen waren. Die Pupillen in der Mitte wirkten ungleichmäßig, so als verlaufe ihr Schwarz mit dem inneren Rand der Iris, genau wie sich das Auge eines Hurrikans mit seiner Wolkenwand vermischt. Wenn sie hineinblickte, fühlte sie sich wie einer der Papiervögel im Luftzug.
    »Wer bist du?«, fragte sie verstört.
    »Ich heiße Finn Munro«, erwiderte er.
    Doch sie hatte eigentlich nicht nach seinem Namen fragen wollen. In Wirklichkeit hatte sie gemeint: Was bist du? Wie kannst du solche Augen haben und wie konntest du dich in eine Wolke verwandeln? »Du bist …« Sie stockte. »Ich meine …«
    »Willst du mir vielleicht auch deinen Namen verraten?«
    »Elsa. Elsa Beletti.«
    Er holte tief Luft. »Okay, Elsa. Ich bin nicht wie du. Und ich bin auch nicht wie irgendjemand sonst. Es hat mal eine Zeit gegeben, in der ich dachte, ich wäre es, aber das ist schon lange her. Ich kann dir nicht versprechen, dass du es verstehen wirst. Ich glaube nicht, dass es viele Leute gibt, die das können.«
    »Ich werde mir Mühe geben.«
    »Wie ich schon sagte, ich bin nicht normal. Und selbst wenn ich es mal gewesen wäre, hätte wohl spätestens das viele Alleinsein hier oben mich wunderlich werden lassen.«
    »Wie lange wohnst du denn schon hier?«
    »Seit acht Jahren. Ich war sechzehn, als ich hierhergezogen bin. Vorher habe ich in Thunderstown gewohnt, in einem schönen alten Haus in der Candle Street, mit meiner Mutter und Daniel. Aber dann habe ich etwas Schlimmes

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