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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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gemacht und bin hier raufgezogen, das war besser für alle. Seitdem rechne ich irgendwie nicht mehr in Jahren, sondern nur noch in Jahreszeiten. Geburtstage und Kalender habe ich ganz aufgegeben.«
    »Warte mal. Daniel? Fossiter? Den kenne ich.«
    »Er war der … Freund meiner Mutter. Er hat mir geholfen, als ich hier raufgezogen bin, und hält mir alle möglichen Schwierigkeiten vom Leib. Seit meine Mutter nicht mehr da ist.«
    Den letzten Satz fügte er so beiläufig wie möglich hinzu, aber Elsa wusste, was es bedeutete, einen Elternteil zu verlieren. Sie wollte ihn trösten. »Mein Dad hat uns auch verlassen, als ich sechzehn war, und ich weiß noch genau, wie es sich angefühlt hat, als er gegangen ist. Als wäre es gestern gewesen. So was vergisst man einfach nicht.«
    Dankbar sah er sie an. »Ja«, stimmte er zu, »es ist schwer zu vergessen, was damals passiert ist. Aber ich habe mich damit abgefunden. Ich habe es nur erwähnt, weil ich dir erklären wollte, dass ich schon ziemlich lange hier oben lebe, um mit mir selbst ins Reine zu kommen.«
    »Ich verstehe immer noch nicht, was ich da neulich gesehen habe.«
    »Okay, lass es mich so erklären …« Finn legte seine Hände flach auf den Tisch neben die unfertige Papierfigur. Von Nahem erkannte Elsa, dass es sich um ein angefangenes Pferd handelte. Der lange Kopf und die grazilen Vorderbeine waren perfekt, nur das Hinterteil war noch nicht fertig.
    »Ich trage ein Gewitter in mir.«
    Elsa blinzelte. »Wie bitte?« Doch sie hatte ihn genau verstanden. Ihr Instinkt riet ihr dazu, ihm nicht zu glauben, aber sie hatte gesehen, wie er als grauer Nebel in die Luft gestiegen war. Sie musste die Fußknöchel fest unter ihrem Stuhl verschränken, damit ihre Beine aufhörten zu zittern.
    »So war es schon immer. Ein Teil von mir ist aus Wolken und Regen und manchmal sogar Hagel oder Schnee.«
    »Aber …« Elsas Kopf schmerzte, als hätte sie auf einen Eiswürfel gebissen. Ihr Blick wanderte wieder zu dem halb fertigen Papierpferd und plötzlich begriff sie, dass sie sich geirrt hatte. Es war fertig, nur dass die hintere Hälfte, von der sie angenommen hatte, dass sie noch in Form gefaltet werden musste, nicht die eines Pferdes war. Es war die eines Fisches. Sie erschauderte. »Das ist unmöglich«, murmelte sie.
    Finn stieß ein betrübtes Lachen aus. »Ich wünschte, du hättest recht. Dann hätte ich nicht dieses Problem. Und auf eine gewisse Art ist es auch unmöglich. Es ist unmöglich, wie ein normaler Mensch damit zu leben. So wie du. Ich bin zu … unbeständig. Das Wetter kann von einem Moment zum anderen umschlagen.« Er blickte auf seine Finger. Es dauerte eine Minute, bis er weiterreden konnte.
    »Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, normal zu sein. Meine Mutter hat alles getan, damit ich leben konnte wie jeder andere kleine Junge. Aber am Ende hat es nicht gereicht.«
    »Du hast gesagt, du hättest irgendwas angestellt.«
    »Es ist etwas passiert, ja. Und es hat dazu geführt, dass ich hier oben allein in dieser Kate lebe und versuche, mich nicht blicken zu lassen. In Thunderstown gibt es ein paar Leute, die … nicht so gut darauf reagieren würden, wenn sie wüssten, was in mir ist. Darum laufe ich tagsüber meistens durch die Berge und abends falte ich Tiere aus Papier. Das ist mein ganzes Leben. So bin ich zwar in Sicherheit, aber ich trage immer noch das Wetter in mir und das erinnert mich ständig daran, dass sich nie etwas ändern wird. Ich spüre es die ganze Zeit, weißt du? In meinem Bauch.« Elsa beugte sich auf ihrem Stuhl vor. »Wie fühlt es sich an?«
    »Na ja, jeden Tag anders. Manchmal ist es eiskalt, dann bin ich ziemlich apathisch, so, als wäre nichts auf der Welt wichtig, und ich denke, ich könnte einfach tot umfallen und es wäre mir egal. An anderen Tagen ist es heiß und nass, wie ein Monsun, und ich kann kaum glauben, wie viel Regen in mir ist. Dann bin ich immer froh, dass ich allein hier oben bin, weil ich dann total weinerlich und sentimental werde. Manchmal heule ich mir wegen irgendwelcher Kleinigkeiten die Augen aus – einer zerbrochenen Tasse zum Beispiel oder irgendeiner traurigen Erinnerung – und danach wundere ich mich jedes Mal, was denn nun daran so schlimm war. Das macht es mir unmöglich, wie ein normaler Mensch zu leben. In letzter Zeit frage ich mich immer öfter, warum ich mir überhaupt noch Mühe geben soll, ein Mensch zu sein. Vielleicht wäre ich ja glücklicher, wenn ich einfach nur noch Wetter

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