Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
Vom Netzwerk:
Ahnung hatte, aus welcher Richtung sie gekommen war.
    Wie eine Parodie des Sonnenaufgangs, der an diesem Morgen dem Drum Head eine schimmernde Krone aufgesetzt und die Stadt mit einem Guss aus Gold überzogen hatte, brach nun abrupt die Dämmerung herein, die Sonne sank rasch und das Licht verblasste wie ein Rauchsignal. Ein paar Streifen von Rosa wanden sich über den Himmel, während Elsa sich hastig den Pfad hinaufquälte, von dem sie hoffte, dass er sie zurück in die Stadt führen würde. Das letzte Licht verschwand hinter der schwarzen Silhouette des Old Colp. Elsa erschauderte. Sie hatte noch immer keine Ahnung, wo sie war und wie sie wieder nach Hause kommen sollte. Die wilde Entschlossenheit, die sie hier heraufgetrieben hatte, hatte sich zusammen mit dem Abendlicht verflüchtigt. Irgendwo in der Nähe schrie ein Tier und sie konnte nicht sagen, ob es ein Vogel war oder etwas anderes. Eilig kletterte sie weiter, froh, dass der Weg bergauf führte, weil sie hoffte, dass ihr der Blick von weiter oben helfen würde, sich zu orientieren, doch als sie den höchsten Punkt erreicht hatte, sah sie in allen Richtungen nichts als schwarze Berghänge. Am Himmel hatten sich gewaltige Wolken ausgebreitet wie Tintenflecke. Das einzige Licht war ein kränklich gelber Schleier an der Stelle, wo die Sonne hinter dem Berg versunken war.
    Ratlos setzte sie sich auf einen Felsen. Dunkelheit tränkte die Landschaft. Die sichtbare Welt schrumpfte zu etwas Kleinem, Schwarzem zusammen; doch jenseits ihrer Grenzen ertönte die unmelodische Symphonie des Windes. Elsa überlegte, wann sie das letzte Mal dermaßen von der Dunkelheit verschlungen worden war. Nicht seit der letzten Nacht im Haus ihrer Eltern, als sie fünfzehn Jahre alt gewesen war und nicht hatte schlafen können, weil all ihre Sachen in Kisten verstaut worden waren und darauf warteten, in das neue Haus geschafft zu werden, das ihre Mum gekauft hatte. Ihre Mutter hatte nie gern in dem Haus mitten in der endlosen Prärie gelebt, also war sie, gleich nachdem sie Elsas Dad vor die Tür gesetzt hatte, nach Norman gezogen, zurück in die Stadt. Erst als sie dort ihr neues Zuhause besichtigt hatten, ein helles Holzhaus in einem grünen Vorort, war Elsa klar geworden, wie sehr sie die Ranch im Nirgendwo liebte. In ihrer letzten Nacht dort, während ihre Mutter im Zimmer nebenan schnarchte, hatte sie sich leise aus dem Bett und die Treppe hinunter geschlichen, genauso, wie sie sich als kleines Mädchen immer zusammen mit ihrem Vater aus dem Haus gestohlen hatte, um auf ihre morgendliche Wolkenjagd zu gehen.
    In jener Nacht hatte sie die dunkle Ranch weit hinter sich gelassen. Als sie sich auf der frühlingshaft grünen Erde niedergelassen hatte, war die Dunkelheit wie eine Schwester gewesen. Die Nacht war mit dem lichtlosen Wirken ihres Herzens und ihrer Lungen verwandt, der pechschwarzen Bewegung des Blutes in ihren Adern. Alle ihre Gefühle fanden im Dunklen statt, in einer Leere, die so unermesslich war wie die Weite des Himmels hoch über ihr, an dem die Sterne bloß den Vordergrund bildeten.
    Jetzt, in dieser Nacht auf dem Berg, spürte sie, wie sich dasselbe Dunkel in ihr ausbreitete wie damals. Fernab der fluoreszierenden Lichter New Yorks spürte Elsa, wie es in sie eindrang wie ein Faden in ein Nadelöhr. Das Wissen, dass sie diese Dunkelheit, so wie es aussah, die ganze Zeit über in sich getragen hatte, erfüllte sie mit Ruhe und Sicherheit. Tief in ihrem Herzen war sie so leer wie die Nacht selbst und trotz ihrer Verlorenheit war sie dankbar, dass sie sie wiedergefunden hatte.
    Als abermals der Schrei des Tieres erklang, fuhr Elsa erschrocken zusammen. Es war ein Heulen, das jetzt viel näher klang, und nun hatte sie keinen Zweifel mehr – es war ein wilder Hund.
    Plötzlich tauchte er vor ihr auf, schlich am äußersten Rand ihres Sichtfelds auf und ab. Selbst auf diese kurze Entfernung war er schwer zu erkennen. Sein Fell war so dunkel wie die Wolken am Nachthimmel, seine Zähne bleich wie Mondlicht, als das Tier sie entblößte. Seine Augen waren mit weißen Sprenkeln durchsetzt gleichsam einer Reihe von Sternbildern.
    Direkt vor Elsa blieb der Hund schließlich stehen, hechelnd, und starrte mit erhobener Schnauze zu ihr auf.
    »Hallo«, flüsterte sie kläglich.
    Seine Zunge schnellte kurz über seine Schnauze. Dann trottete der Hund an ihr vorbei, nur um ein Stück weiter wieder stehen zu bleiben und sich, träge mit dem Schwanz wedelnd, nach ihr

Weitere Kostenlose Bücher