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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Sie sah deutlich den kleinen Schnitt in der Mitte seiner Fingerkuppe, doch es strömte kein Blut daraus hervor. Stattdessen zischte es. Ein Pfeifen wie von einem zerstochenen Reifen. Sie spürte den schwachen Luftzug an ihrer Wange.
    »Bitte«, sagte Finn knapp, »damit dürften deine Fragen wohl beantwortet sein. Und jetzt kannst du dein Versprechen einhalten.«
    »Welches Versprechen?« Elsa hatte noch mehr Fragen als zuvor, doch sie wusste nicht, wie sie sie in Worte fassen sollte.
    »Mich in Ruhe zu lassen.«
    Sie sah ihm an, dass sie ihn verletzt hatte. Sie wünschte, sie hätte anders reagiert, aber sie hatte plötzlich solche Angst bekommen. Sie versuchte, sich zu entschuldigen, doch darin war sie noch nie gut gewesen, und so murmelte sie nur etwas Unverständliches vor sich hin. Am Ende hatte sie keine andere Wahl, als sich mit einem jämmerlichen Winken zu verabschieden und ihn in der Kate allein zu lassen.
    Nach ein paar Schritten durch die karge Berglandschaft drehte sie sich um, in der Hoffnung, dass Finn in der Tür stehen und ihr nachblicken würde. Doch er hatte sie bloß lautlos hinter ihr geschlossen und sah nicht einmal aus dem Fenster.

Die Morgensonne brauchte eine ganze Weile, um das Fossiter-Gehöft in ihr warmes Licht zu tauchen. Auf ihrem gemächlichen Weg Richtung Westen drangen vereinzelte Strahlen in die große Halle und erhellten die Spinnweben und ernsten Gesichter auf den Ahnenporträts. Mitten in diesem Licht kniete Daniel Fossiter und fragte: »Bist du tot? Bist du gestorben, Mole?«
    Mole, seine Hündin, lag auf den Holzdielen, die Pfoten von sich gestreckt, das gesunde Auge fest geschlossen. Ihr anderes Auge – auf dem sie von Geburt an blind war – blieb offen, schwarz und blau marmoriert wie die Schale einer Miesmuschel. Sie hatte sich den ganzen Morgen nicht gerührt und schien nicht einmal zu atmen.
    Wenn er nicht so ein verdammt sentimentaler Trottel wäre, hätte er ihr schon vor langer Zeit ein letztes Mal ihr Lieblingsfressen vorgesetzt und sie anschließend nach draußen geführt. Stattdessen aber hatte er sie so gebrechlich werden lassen, dass nun jeder Tag ihr letzter sein könnte. »Mole?«, flüsterte er. »Bist du noch da, Mole?« Jeder Fossiter, der jemals durch die Berge gestreift war, hatte einen Hund besessen, einen Abkömmling jener Hundedynastie, deren Stammbaum genauso sorgfältig dokumentiert war wie der der Fossiters selbst. Es waren zähe Jagdhunde mit kupferfarbenem Fell, die nur selten bellten oder herumtobten, sondern am liebsten auf dem Bauch robbend irgendwelchen Spuren folgten. Daniel hatte von seinem Großvater einen ganzen Schwung davon geerbt, jedoch auch die beiden tollpatschigen Haushunde seines Vaters, die zeit ihres Lebens so schrill kläfften, dass die Jagdhunde es nie gewagt hatten, sich mit ihnen anzulegen. Ein paar Jahre lang hatte er mit diesem bunt gemischten Rudel zusammengelebt, bis beide Hundearten, als handle es sich um einen Wettbewerb, zur selben Zeit einen Wurf Welpen zur Welt brachten und Daniel zu fürchten begann, von Hunden überrannt zu werden. Es war ein seltsames Gefühl gewesen zu wissen, dass er der einzige verbliebene Fossiter war, während die flauschige Nachkommenschaft sämtlicher Köter seiner Vorväter kläffend und nacheinander schnappend um ihn herumtollte.
    Er hatte die Hunde verkauft, alle bis auf einen Welpen aus jedem Wurf. Streng genommen brauchte er keinen Hund mehr für die Jagd. Das Spurenlesen, Fallenstellen und Töten war ihm so ins Blut übergegangen, dass er alle drei Dinge im Schlaf konnte. Als die beiden Welpen alt genug waren, um selbst einen Wurf Mischlingswelpen zu produzieren, hatte er nur den kleinsten davon behalten: eine versonnene schwarze Hündin mit einem blinden Auge und einer zerknautschten Nase. Er nannte sie Mole. Maulwurf.
    Mole war anders als alle Hunde, die Daniel je besessen hatte. Sie war wie sein Schatten. Natürlich hatte er für die anderen Tiere ebenfalls gut gesorgt, doch nur so gut, wie er sich auch um die Polstermöbel in seinem Haus kümmerte oder ein antikes Erbstück polierte, dessen Geschichte er nicht kannte. Mole war so ruhig wie die Jagdhunde in ihrer Ahnenschaft und genauso nachdenklich und melancholisch wie ihr Herrchen. Es gab Momente, in denen Daniel und Mole Seite an Seite auf einem Felsvorsprung in den Bergen saßen und sich mit solch beiderseitiger Schwermut in die Augen blickten, dass Daniel die Hand an sein Gesicht hob und nicht erstaunt gewesen wäre, dort

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