Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
Vom Netzwerk:
fransigen Zinnen. Dünne Regenfäden ketteten die Wolke an den Boden. Im Zentrum war sie so schwarz, dass Elsa Dots Spiegelbild auf der Seite sehen konnte.
    »Ein Unwetter«, sagte Elsa.
    »Kumulonimbus«, flüsterte Dot und das Wort klang wie das Zischen tückischer Windböen im hohen Gras oder das trockene Surren eines Gewittertierchens. Kumulonimbus, die Gewitterwolke. Elsa hatte diesen Namen schon so oft in Büchern gelesen, zusammen mit Zirrus und Altokumulus und all den anderen. Doch aus Dots Mund klang das Wort genau wie damals, wenn ihr Dad es ausgesprochen hatte. Wie der Name eines Erzengels.
    »Dieser hier«, sagte Dot und zeigte auf ein Foto, »war höher als der Mount Everest. Er trug fünfmal so viel gebündelte Energie in sich wie die Bombe, die Hiroshima zerstört hat. Seine Blitze waren um das Zehnfache heißer als die Oberfläche der Sonne. Und das ist für einen Kumulonimbus völlig normal.«
    Elsa starrte auf das Bild.
    »Manche Leute«, fuhr Dot langsam fort, »meinen, Kumulonimbuswolken seien die pure Kraft Gottes, oder auch die des Teufels oder Hexenwerk, weil etwas so Gewaltiges ganz sicher andere Ursprünge haben müsse als Wasser und Staub.«
    Elsa schloss die Augen und sah ihren Vater im Besucherzimmer des Gefängnisses vor sich, nachdem er bereits angefangen hatte, nur noch an die Decke zu starren und sich einzureden, dort Wolken vorüberziehen zu sehen. Als sie aufgestanden war, um sich zum, wie sich herausstellen sollte, letzten Mal von ihm zu verabschieden, hatte er sie mit einem dümmlichen Lächeln angesehen und verkündet: »Es regnet, Elsa.« Und sie hatte entgegnet: »Dad, wir sind im Haus.« Er zeigte auf ihre Wange, und als sie die Stelle berührte, glitzerte eine Träne auf ihrer Fingerspitze. Dann hatte er sich wieder der Decke zugewandt und geflüstert: »Siehst du? Es regnet.«
    Jetzt streckte Dot die Hand aus und griff nach ihrer. »Ich möchte Ihnen noch etwas anderes zeigen.«
    Sie öffnete einen weiteren, kleineren Atlas und begann darin zu blättern. Als sie fand, wonach sie gesucht hatte, legte sie das Bild neben das mit der sepiafarbenen Kumulonimbuswolke. Die Seite, die sie aufgeschlagen hatte, zeigte ein Bild voller Nebel. In dem Nebel schwebte die dunkle Silhouette einer Gestalt mit unmenschlich langen Gliedern und einem Kopf aus Schatten. Dot blätterte weiter und zeigte Elsa noch mehr Aufnahmen desselben Phänomens: ein hoch aufragender Schatten mit dürren schwarzen Armen und Beinen. »So …«, hauchte Elsa, »… ein Bild habe ich schon mal gesehen.«
    »Es ist ein Wolkengespenst«, flüsterte Dot ehrfürchtig. »Etwas sehr Seltenes. Das erste Mal, dass so etwas dokumentiert wurde, war auf dem Brocken in Deutschland. Ein Schäfer hatte sich dort oben im Nebel verirrt und versuchte zurückzufinden, als er es plötzlich sah. Stellen Sie sich das nur vor! Im einen Moment glaubt man, meilenweit von jedem anderen Menschen entfernt zu sein, und im nächsten sieht man eine Gestalt, die einem durch den Nebel folgt. Dem Schäfer hat der Anblick einen solchen Schrecken eingejagt, dass er sich für den Rest seines Lebens nur noch bei schönem Wetter in die Berge gewagt hat.«
    »Aber es ist nur eine Täuschung, oder? Ein Spiel des Lichts.«
    »Ja, natürlich. Es war nur sein eigener Schatten, auf die Wolke projiziert. Aber wissen Sie«, Dot senkte die Stimme, der Blick ihrer alten Augen hinter den dicken Brillengläsern wurde plötzlich scharf und die Atmosphäre in dem winzigen Raum wirkte aufgeladen, wie vor einem Gewitter, »dass Betty Munro so ein Wolkengespenst gesehen hat?«
    Elsa spürte ein Prickeln auf der Haut. Einen Moment lang meinte sie, draußen den Wind gegen das Mauerwerk trommeln zu hören. »Ich habe bisher nur Bruchstücke von dieser Geschichte gehört. Können Sie mir mehr über sie erzählen?«
    Die Haut um Dots Augen kräuselte sich zu unzähligen Fältchen. »Wo soll ich da anfangen? Als sie mich das erste Mal hier besuchte, war der Grund dafür, dass sie von einem Wundermittel gegen Unfruchtbarkeit gehört hatte: bei Gewitter auf einen Berg klettern und Regenwasser trinken, bis einem schlecht davon wird. Ja, sagte ich zu ihr, davon hätte ich auch schon gehört. Ob sie es versuchen solle, wollte sie wissen, und ob ich glaube, dass es funktionieren würde?« Dot ließ sich langsam aufs Bett sinken, mitten zwischen die Wolkenatlanten. »Ich sagte ihr, es könne funktionieren und es könne nicht funktionieren und es könne beides gleichzeitig eintreten

Weitere Kostenlose Bücher