Der Mann, der den Regen träumt
suchte sich eine Stelle im weichen Gras, wo auch sie ihre Schultern an den rauen Stein der Hofmauer lehnen konnte, und tat es ihnen nach.
Sie dachte noch immer an Finn. In den wenigen Minuten Ruhe, die sie in der Nacht zuvor gefunden hatte, hatte sie ein Albtraum geplagt, in dem sie wieder und wieder in einem Strudel umhergewirbelt wurde, so dunkel wie der Schlaf selbst. Mit ihr im Wasser trieben die Knochen verirrter Minenarbeiter, lose und vom tosenden Wirbel durcheinandergeworfen. Runde um Runde wurde sie mitgerissen, bis sie schließlich in die schwindelerregende Tiefe im finsteren Herzen des Strudels stürzte.
Die Tür der Kapelle öffnete sich und riss sie aus ihren Gedanken. Plaudernd kamen die Nonnen heraus. Elsa sprang auf die Füße, voller Sorge, Dot unter all den identischen Gewändern und zwergenhaften Gestalten gar nicht wiederzuerkennen, doch sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als auch schon eine der Nonnen einen erfreuten Laut ausstieß und zu ihr herübergehumpelt kam: Dot, das Gesicht ganz zerknittert vor Aufregung.
»Ah!«, krächzte sie, »meine junge Wolkenfreundin!« Sie streckte die Hand aus und kniff Elsa mit ihren knotigen Fingern in den bloßen Unterarm.
»Ich hoffe, ich störe nicht.«
»Kein bisschen«, erwiderte Dot und ihre Augen funkelten. »Um ehrlich zu sein, habe ich sogar mit Ihnen gerechnet. Hier entlang!« Sie ergriff Elsas Hand und zog sie geschäftig zu einer Tür in der Mauer. Bienen summten umher und umschwirrten die großen Blumen und die zwei alten Leute auf dem Boden.
»Der Mann da drüben«, flüsterte Elsa, »und die alte Frau mit der Taube auf der Schulter – das sind aber keine Nonnen.«
»Was Sie nicht sagen«, erwiderte Dot lachend. »William und Beatrice sind zwei unserer Patienten. Wir haben ein paar Leute hier oben, denen die Ärzte nicht mehr helfen können.«
»Was fehlt ihnen denn?«
Sie hatten die Tür erreicht. Sie führte in einen kühlen, kargen Korridor, und erst als sie drinnen waren und Dot die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, erklärte sie leise: »Sie wurden vom Blitz getroffen. Es ist ein kleines Wunder, dass sie überlebt haben, und in mancherlei Hinsicht könnte man sicher behaupten, dass das nicht der Fall ist. William hat sein Sehvermögen verloren, als der Blitz ihn traf. Dafür meint er jetzt, Dinge sehen zu können, die anderen verborgen sind: Engel und solche Sachen. Was Beatrice betrifft … Sie kann keine Gespräche mehr führen, nur noch mit den Vögeln. Sie hat vergessen, wie man Englisch spricht, und stattdessen die Taubensprache gelernt.«
Elsa dachte an die Blitze, die Luca und Betty und ihren Vater getroffen hatten.
»Das ist ja schrecklich«, erwiderte sie und bemerkte, dass sie unbewusst angefangen hatte zu flüstern.
Sie gingen durch einen weiteren kahlen Korridor und stiegen eine Treppe in den ersten Stock hinauf. Dort betraten sie Dots Zimmer, eine winzige, schlicht eingerichtete Zelle mit einer Schilfrohrmatte auf dem Boden, einem Schilfrohrkreuz an der Wand, einem kleinen Fenster und einer elektrischen Lampe. Dot griff fröhlich unter das Bett und zog mühsam einen Stapel Bücher hervor, jedes so groß und so schwer wie ein Atlas. Elsa schnappte vor Aufregung unwillkürlich nach Luft. Diese Atlanten befassten sich nicht mit der Erde, sondern mit dem Himmel. Bücher wie jenes, das ihr Dad ihr einmal geschenkt hatte und das sie gehütet hatte wie einen Schatz, bis sie es ihm an dem Tag, als er sie verlassen hatte, durch den Regen hinterhergeschleudert hatte. Ihre Mutter hatte das zweifellos für eine angemessene Verabschiedung gehalten, aber Elsa hatte es nicht getan, um ihren Dad zu verletzen, sondern um ihm zu zeigen, wie verzweifelt sie sich wünschte, dass er blieb.
»So einen hatte ich auch mal«, murmelte sie und starrte traurig auf die Wolkenatlanten, die Dot auf dem Bett verteilte.
Die Nonne lächelte und legte die Hand auf den größten und ältesten Folianten, der in Leder gebunden und dick wie eine Bibel war. Auf dem Einband klebte eine Sepiaaufnahme von sich auftürmenden Gewitterwolken, die die Sonne verdeckten.
Sie schlug die erste Seite auf. Die Bindung knarzte wie rostige Türangeln und verströmte den Duft von trockener Tinte und Papier. Sie blätterte durch eine Reihe weiterer Sepiafotos: einzelne bauschige Kumuli und Felder von Schäfchenwolken. Bald gelangte sie zu dem Foto einer riesigen Wolke aus schwarzem Nebel. Sie sah aus wie ein Turm aus einem Schachspiel, finster, mit
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