Der Mann, der den Regen träumt
auf eine Art, die sich nicht vorhersehen lasse.« Sie seufzte. »Ich hätte deutlicher werden sollen, aber ich hatte unterschätzt, wie sehr sie darunter litt, kein Kind bekommen zu können. Ich hatte diesen Drang lange hinter mir gelassen und ich nehme an, ich hatte einfach vergessen, wie stark er sein kann. Manchmal ist das Leben eines anderen das Einzige, was dem eigenen Sinn verleihen kann.«
»Also hat sie es versucht?«
»Ja. Sie ist in die Berge gegangen und hat auf ein Gewitter gehofft. Dort oben wurde ihre Hoffnungslosigkeit zu Verzweiflung und in ihrer Qual schrie sie zum Himmel auf und tauchte ihren Kopf unter Wasser, um ihren Kummer in leere Bergseen hinauszuschreien. ›Alles‹, versprach sie jedem über oder unter ihr, der sie hörte, ›alles, was ihr wollt. Wenn ihr mir nur ein Kind schenkt.‹«
So wie Dot auf der Bettkannte hockte, wirkte sie wie eine Geschichtenerzählerin, abends am Feuer. Elsa saß im Schneidersitz auf dem harten Boden.
»Und eines Tages«, fuhr Dot fort, »in den Nebeln hoch oben auf dem Berg, sah Betty tatsächlich eine Gestalt. Einen Umriss mitten im Nebel. Das war ohne Zweifel eine Täuschung, ein Gespenst wie das auf dem Brocken, ihr eigener einsamer Schatten in den Wolken. Für sie aber, in diesem Moment, war es jemand, der sie erhört hatte! Am nächsten Tag kam sie wieder zu mir. Sie wollte, dass ich ihr erkläre, was sie gesehen hatte.«
»Was haben Sie zu ihr gesagt?«, drängte Elsa.
Dot deutete auf ein Glas Wasser auf der Fensterbank. Elsa stand auf, brachte es ihr und die alte Nonne trank einen Schluck und schmatzte dann laut. »Was hätten Sie denn gesagt?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich hätte versucht, ihr klarzumachen, dass es nur ein Wetterphänomen war.«
Dot runzelte die Stirn. »Tja, so etwas würde ich niemals sagen. Nein. An so etwas müsse man glauben, damit es funktioniert, habe ich ihr erklärt.«
Elsa runzelte die Stirn. »Und das hat ihr gereicht?«
»Es hat gereicht. Sie stieg immer wieder auf den Berg, um nach ihrem Gespenst Ausschau zu halten. Ich glaube nicht, dass sie es je wiedergesehen hat, aber Betty meinte, in jedem Felsen, jedem Erdrutsch Spuren von ihm zu erkennen. Dann, eines Tages«, Dot hob den ersten Wolkenatlas hoch, der noch immer auf der Seite mit dem schwarzen Gewitterturm aufgeschlagen war, »kam Kumulonimbus nach Thunderstown. Betty war überzeugt, dass er derjenige gewesen sei, den sie im Nebel gesehen hatte. Sie sagte, sie spüre das tief in ihrem Bauch. Und so stieg sie im strömenden Regen auf den Drum Head und versuchte, Regentropfen zu trinken, bis ihr übel wurde.«
»Und? Was ist dann passiert?«
»Haben Sie jemals versucht, Regen mit dem Mund aufzufangen? Genug, dass einem davon schlecht wird?«
»Nein.«
»Es ist genauso unmöglich, wie es sich anhört. Und auch Betty schaffte es nicht. Wer weiß, vielleicht hätte sich die Legende sonst als wahr erwiesen. Aber das hat sie nicht, nein. Stattdessen wurde Betty vom Blitz getroffen. Bums! Eine Million Volt pure Elektrizität, direkt in ihren Bauch. Dann zog das Gewitter weiter und es wurde ein heiterer Abend.« Dot legte das Buch zurück und klappte es zu, sodass der freundlichere Himmel auf dem Einband den Kumulonimbus in seinem Inneren verbarg.
»Was ist mit ihr passiert?«, wollte Elsa wissen.
Dots Augen blitzten. »Das meiste davon wissen Sie schon, Elsa. Sie war schwanger geworden. Das sagte sie auch gleich den Leuten vom Suchtrupp, die sie schließlich friedlich schlafend auf dem Berg fanden, aber die dachten, sie fantasiere bloß. Schwanger! Nur dass es nicht ganz so war, wie sie es sich gewünscht hatte. Es war nicht ihr Baby, genauso wenig wie das von irgendjemand anderem. Es war Kumulonimbus.«
Elsa war so versunken in die Geschichte, dass sie eine Weile brauchte, um zu bemerken, dass Dot ihre Brille abgenommen hatte und sich die Hände auf die Augen presste. Sie setzte sich zu ihr aufs Bett und berührte sie sanft an der Schulter. »Was ist denn los, Dot? Warum weinen Sie?«
Dot zog ein Taschentuch unter ihrem Kissen hervor und tupfte sich die Augen trocken. Dann setzte sie ihre Brille wieder auf und tätschelte Elsa das Knie. »Tut mir leid. Es ist nur – ich wollte es ihr einfach nicht sagen. Sie war so glücklich, ihn zu haben, dass ich es einfach nicht über mich brachte, zu ihr zu sagen: Das ist nicht dein Kind. Weil sie das nämlich glaubte, wissen Sie? Und ich wusste noch nicht einmal, ob es überhaupt wichtig war.«
»Das verstehe
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