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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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spätsommerliche Warnung, dass der Herbst vor der Tür stand, und der Himmel über den Dächern von Thunderstown war mit einer weißen Wolkendecke, so fein wie Schwanenfedern, verhangen.
    Überrascht stellte er fest, dass ihr Wagen direkt vor dem Haus geparkt war, der Kofferraum stand offen. Zwei Taschen waren bereits darin verstaut und Betty kam gerade mit einer dritten aus dem Haus geeilt. Sie zuckte zusammen, als sie Daniel sah, sammelte sich aber schnell wieder und stellte die Tasche ab.
    Sie sah aus, als würde sie in ihrem fadenscheinigen Pullover frieren. Ihr blondes Haar war ein nasses Gewirr und sie schien sich in aller Eile geschminkt zu haben. »Hallo, Daniel. Ich war gerade auf dem Weg zu dir.«
    Er blickte argwöhnisch von Betty zum Auto. Er mochte die Distanz nicht, die ein Fahrzeug zwischen einem Menschen und dem Erdboden schuf und die sehr viel größer war als der halbe Meter bis zur Radaufhängung. »Für die kurze Fahrt durch die Stadt hast du aber ganz schön viele Koffer gepackt.«
    »Daniel, hör zu, ich … gehe für eine Weile weg.«
    Er runzelte die Stirn. »Wohin denn?«
    »Irgendwohin, wo ich einen klaren Kopf bekommen kann.«
    Panik durchzuckte ihn, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Am liebsten hätte er den Motor des Wagens zerlegt oder sein Messer in die Reifen gerammt. Er leckte sich über die Lippen. »Kann ich mitkommen?«
    »Tut mir leid, Daniel. Nein, du kannst nicht mitkommen. Niemand kann das. Ich brauche Abstand. Was passiert ist … Es ist einfach zu viel.«
    Er musste einen Moment lang wegsehen, die Straße hinauf bis zur elfenbeinfarbenen Kuppel des Old Colp. »Was ist mit Finn? Nimmst du ihn mit?«
    »Nein, und er weiß auch noch nichts davon. Er ist heute rauf in die Berge gegangen.« Sie deutete auf die offene Haustür. »Komm doch mal einen Moment raus aus der Kälte.«
    Die Temperatur fiel Daniel kaum mehr auf, doch er folgte Betty trotzdem dankbar ins Haus. Die Zimmer waren so sauber, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. All ihre Sachen waren verschwunden oder befanden sich in der letzten Tasche, die noch im Flur auf dem Boden stand. Alles wirkte so ordentlich wie in einem Musterhaus.
    Er hob eine Hand an die Stirn. Seine Knie und seine Fußknöchel fühlten sich plötzlich an wie ein Haufen gelöster Schrauben und Muttern. »Betty«, brachte er schließlich heraus, »wie lange bleibst du weg?«
    Sie zuckte mit den Schultern.
    Präg dir jedes Detail von ihr gut ein, dachte er bei sich. Er starrte ihr ins Gesicht, betrachtete ihre grün schimmernden Augen, die rautenförmige Öffnung, dort wo sich ihre Lippen teilten.
    »Daniel?«
    Das Muttermal auf der Unterseite ihres Kinns, die Form ihrer Ohrläppchen, der Hauch von Sommersprossen auf ihrer schmalen Nase und ihre Wangenknochen.
    »Daniel.« Betty trat auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. Sie presste die Wange an seinen Hals, ihr Kopf passte genau in die Mulde zwischen seinem Bartansatz und dem Schlüsselbein. Sein Rücken war zu breit, als dass sie ihn hätte ganz umfassen können, also grub sie die Finger in seine Schulterblätter. Ihre Oberschenkel und Hüften berührten seine, ihre Brüste seine Rippen. Sie war warm und dünn und roch nach frischer Seife und Wasser. Er blickte auf ihr Haar hinunter und weigerte sich zu blinzeln, denn er wusste, dass er keine Sekunde verlieren durfte und es ihm niemals gelingen würde, all dies genau so im Gedächtnis zu behalten.
    »Betty.« Ihr Name drang aus seiner Kehle wie das Stöhnen eines blutenden Tiers in einer Falle. »Geh nicht.«
    Sie wich einen Schritt zurück. Ganz vorsichtig streckte er den Arm aus und stützte sich an der Wand ab.
    »Ich muss. Es tut mir leid.«
    Er konnte seine Beine kaum noch spüren. Sein Magen schien sich in freiem Fall zu befinden. Er wusste, wenn er die Wand losließ, würde er wie ein Häufchen Elend auf den Bodendielen zusammensacken.
    Sie schleuderte ihm ein Lächeln entgegen. »Bitte tu mir einen Gefallen. Während ich weg bin.«
    Er brachte ein Nicken zustande.
    »Kümmer dich um Finn.«
    Er würde alles tun, was sie von ihm verlangte.
    »Okay.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen, dann löste sie sich von ihm und hob ihre letzte Tasche auf. »Gut. Das ist dann wohl alles. Schließt du das Haus für mich ab?«
    Er nickte.
    Und dann, so als hätte sich eine Fessel gelöst, die sie die ganze Zeit zurückgehalten hatte, stürzte Betty aus der Tür, den Pfad hinunter, und stieg in ihr Auto.
    Daniel

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