Der Mann, der den Regen träumt
Finger zu korrigieren, und leitete sie dabei an, genau die richtigen Falten zu erzeugen.
»Sehr gut«, lobte er Finn, als er fertig war. Der Vogel des Jungen war genauso gut gelungen wie sein eigener, der einzige Makel ein leicht schief stehender Flügel. Einen Moment lang blickten sie einander mit unverhohlener Verwunderung an. Daniel stellte zu seinem Erstaunen fest, dass sein Talent von ihm selbst auf Finn übergegangen sein musste, so wie es einst von seiner Mutter auf ihn übergegangen war. Dies brachte sie alle drei einander näher, so nah wie die Seiten eines geschlossenen Buches.
Finn wollte es sofort noch einmal probieren. Daniel lehnte sich zurück und sah ihm dabei zu, während, ohne dass er ihn auch nur einmal unterbrechen musste, die bisher beste Taube Gestalt annahm. Finn legte sie vorsichtig zwischen seinen ersten und Daniels Versuch auf den Tisch, sodass die drei Vögel Seite an Seite dahockten. Eine ganze Weile starrten die beiden sie bloß an und dachten an das fehlende dritte Mitglied in ihrer Runde, eines, das vollkommener war als die beiden, die zurückgeblieben waren.
Von diesem Tag an faltete Finn jedes Mal einen Papiervogel für Daniel, wenn dieser zu Besuch kam. Jedes Mal, wenn er nach der Kirche zu der Kate hinaufstieg, erwartete ihn auf dem Tisch ein neues Exemplar. Er hob sie alle auf und verstaute sie sorgsam in seiner Truhe, zusammen mit der Bibel seines Vaters und der Violine seines Großvaters. Manchmal testete er ihre Flugfähigkeit, bevor er sie wegräumte, und die Vögel flogen jedes Mal eine so perfekte Kurve, dass Mole anfing zu kläffen und ihnen hinterherjagte, als wären sie Schmetterlinge, und tatsächlich erwiesen sie sich als genauso schwer zu fangen und entwischten im letzten Moment ihren zuschnappenden Kiefern. Was Daniel wiederum daran erinnerte, wie Betty und Mole zusammen durch seinen Garten getobt waren, und daran, wie er mit Betty getanzt hatte, an jenem verzauberten Abend, als Mr Nairn seinen hundertsten Geburtstag feierte und er und Betty in perfektem Einklang herumwirbelten und mit den Füßen stampften, bis der letzte Ton von den Saiten der Fiedeln erklang.
Dann, eines Tages, überreichte ihm Finn keinen Papiervogel, als er ihn besuchte. Sie hatten zusammen in der Kate gegessen und danach hatte Daniel sich wieder auf den Heimweg gemacht. Erst als er wieder im Tal angelangt war, fiel ihm auf, dass seine Hände leer waren. Er ging davon aus, dass der Junge es vergessen hatte, und sagte nichts dazu. Er schwieg auch, als bei ihren nächsten Treffen dasselbe geschah. Widerstrebend ließ Daniel den Gedanken zu, dass Finn vielleicht keine Lust mehr hatte, ihm Geschenke zu machen, und fortan sollte er nach jedem seiner Besuche bei Finn in seine zerfurchten Hände blicken und zu seiner Überraschung feststellen, wie sehr er sich wünschte, einen Papiervogel darin zu halten.
* * *
Eine Meile vor Thunderstown zerteilte eine Schlucht mit grauen Felswänden die Ausläufer des Devil’s Diadem. Den Grund der Spalte bildete eine dunkle Straße aus scharfkantigen Steinen, aber die Wände waren genauso zerklüftet wie in jedem anderen Canyon und nur von ein paar gefährlich schmalen Pfaden durchsetzt, auf die sich lediglich die Ziegen wagten. Auf den unerreichbaren Vorsprüngen hatten Adler ihre Horste gebaut, doch in dieser Gegend waren diese Vögel zerzauste Kreaturen und ihr Flug entbehrte jeder Eleganz. Hoch oben überzogen fetzengleiche Zirruswolken den Himmel, jede einzelne wie eine Kratzspur eines wilden Tiers.
Elsa war Finn nach hier oben gefolgt, ihre Hand in seiner, abgesehen von einem kurzen steilen Anstieg, wo sie beide Hände zum Klettern gebraucht hatte. Sie hatten sich für diesen Moment der Trennung mit einem Kuss entschädigt und in einer festen Umarmung aneinandergeschmiegt und Elsa genoss das Gefühl von Finns glattem Körper unter ihren Händen.
Sie hatte eine Decke aus Thunderstown mit heraufgebracht, während er ein langes Papprohr unter den Arm geklemmt trug. Eine Weile liefen sie oberhalb der Schlucht entlang, wo sich der Pfad zwischen dem steilen Abgrund auf der einen und einer Wand aus schroff aufragenden Felsen auf der anderen Seite entlangschlängelte. Elsa hielt sich beim Gehen an der rauen Oberfläche fest, während sie die Tiefe neben sich als nervöses Kribbeln in den Zehen spürte. Sie war froh, als sie schließlich eine Stelle fanden, wo sie sich hinsetzen konnten, eine u-förmige Einbuchtung zwischen den Felsen, von allen Seiten
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