Der Mann, der den Regen träumt
stolperte in den Vorgarten, um zu sehen, wie sie die Candle Street hinunter verschwand. Als der Wagen nicht mehr zu sehen war, ließ er sich fallen. Er schlug auf dem Bürgersteig auf wie ein zusammenstürzender Haufen Steine. Lange blieb er dort liegen und starrte die Straße entlang. Irgendwann schleppte er sich zurück ins Haus und ging langsam durch die Zimmer, setzte sich auf jeden Stuhl, atmete den Duft jedes Schranks ein und vergrub sein Gesicht in Bettys Kopfkissen. Schließlich gelangte er in Finns Zimmer, wo er auf einem Stapel Kleider einen Umschlag liegen sah, glatt und frisch zugeklebt. Finn stand darauf in Bettys schöner Handschrift. Als er ihn aufhob, wog er genauso viel wie all die Eifersucht und Verwirrung, die diese Entdeckung begleiteten. Warum hatte sie keinen Umschlag mit der Aufschrift Daniel hinterlassen?
Er steckte den Brief in seine Hemdtasche, und auch als er zu Hause ankam, nahm er ihn nicht heraus.
Kümmer dich um Finn.
Ihm wurde klar, dass er nicht wusste, wie er ihrer Bitte nachkommen sollte. Er konnte dafür sorgen, dass der Junge ein Dach über dem Kopf und immer genug Vorräte hatte, aber er hatte Bettys Worten noch einen weiteren Wunsch entnommen, dessen Erfüllung mehr als nur praktische Maßnahmen erforderte. Wie sollte er das Wetter in dem Jungen unter Kontrolle halten? In Gedanken bat Daniel seinen Vater und Großvater um Hilfe, doch sie wandten sich von ihm ab und verlangten, dass er dem Drang des düstersten Teils seines Herzens folgte, und das würde er nie tun, weil die Liebe seines Lebens Kümmer dich um Finn gefleht hatte. Ihm wurde bewusst, dass sein Vater und Großvater ihn in seinen prägenden Jahren im Stich gelassen hatten und er sich allein mit dem Chaos in seinem Inneren hatte auseinandersetzen müssen. In seiner Jugendzeit hatte es Momente gegeben, in denen seine Emotionen aus den Tiefen seiner Seele aufgestiegen waren wie eine bedrohliche Flut, bis er geglaubt hatte, darin ertrinken zu müssen. Er hatte nach Hilfe gesucht, doch weder sein Vater noch sein Großvater waren für ihn da gewesen. Und so war ihm nichts anderes übrig geblieben, als Wasser zu treten, bis der Pegel wieder sank.
Er hatte die Verwüstung ignoriert, die diese Überflutungen zurückgelassen hatten. Denn genauso, wie eine Flutwelle in einem Haus aufgequollenes Holz und marode Grundmauern zurückließ, rottete nun auch in Daniels Innerem eine Schicht aus Trümmern vor sich hin.
Aus diesen Erfahrungen wusste er, dass er sich nicht um Finn würde kümmern können, und sein Scheitern bestätigte sich bereits eine Stunde nach Bettys Abfahrt, als er Finn die Neuigkeit überbrachte und der Junge, voller Unglauben, fragte: »Hat sie nichts für mich dagelassen? Nicht mal einen Brief?«
»Nein«, hatte Daniel geantwortet, »gar nichts.«
Mit diesen paar Worten hatte er sich jede Möglichkeit, Finn jemals Bettys Brief zu geben, verbaut. Also behielt er den Umschlag und Finn erfuhr niemals von seiner Existenz. Mit der Zeit wurde ihm der Brief so wichtig, dass er den Gedanken daran, dass er eigentlich dem Jungen gehörte, verdrängte. Denn dieses eine Zeugnis ihrer Handschrift war das letzte Stück von Betty, das ihm geblieben war. Am Anfang behielt er ihn in seiner Hemdtasche. Tage und schlaflose Nächte lang trug er ihn bei sich, direkt an seinem Körper wie ein Amulett. Als er das Hemd, das ihre Finger berührt hatten und an das sich ihre Brust geschmiegt hatte, schließlich waschen musste, steckte er den inzwischen ziemlich verknitterten Brief in die Tasche eines neuen Hemdes und trug ihn weiterhin mit sich, wohin er auch immer ging. Irgendwann war der Brief so mitgenommen, dass sich der Umschlag – qualvoll verlockend – zu öffnen begann. Dies machte es Daniel schließlich unmöglich, ihn weiter bei sich zu tragen, und er schloss ihn zusammen mit der Bibel seines Vaters und der Violine seines Großvaters in seine alte Truhe und erzählte Finn noch immer nichts davon.
Die Zeit verging. Kein Anruf, kein Brief, keine Nachricht von Betty. Und als sich die langen Monate ihrer Abwesenheit schließlich zu einem halben Jahr auftürmten, begann sich die Bedeutung des Briefs in seiner Truhe zu wandeln. Gut verwahrt in diesem Umschlag befanden sich Worte von ihr, Worte, die er noch nie gehört hatte. Er sehnte sich nicht nur danach, ihre Handschrift zu sehen, sondern er hoffte auch, dass er, wenn er sie las, in seinem Kopf ihre Stimme hören würde. Sein Wunsch, den Brief zu öffnen und ihn zu lesen,
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