Der Mann, der den Regen träumt
wurde immer drängender. Sie wäre enttäuscht von ihm, natürlich, und die Angst, diese Schuld auf sich zu laden, brachte ihn dazu, den Brief weiter verschlossen in der Truhe zu lassen.
Weitere Monate vergingen. Betty tauchte nicht wieder auf, noch gab sie auch nur das kleinste Zeichen von sich. Daniel versuchte vergeblich, sie aufzuspüren, kramte die Telefonnummern von alten Freunden und Verwandten heraus, doch auch sie wussten nicht, wo Betty sich aufhielt, und waren genauso besorgt wie er. Trotzdem widerstand Daniel weiterhin dem Drang, den Brief zu lesen, obwohl sich der Grund dafür, dass er es nicht tat, mit der Zeit änderte. Jetzt waren es keine Schuldgefühle mehr, die ihn davon abhielten, sondern blanke Furcht. Wenn er den Brief las, wäre anschließend nichts mehr von ihr übrig, das er noch nicht kannte. Er war nicht sicher, ob er das ertragen würde. Also ließ er den Brief ungeöffnet, obwohl er ihn immer wieder aus der Truhe nahm, um an den Ecken herumzunesteln, die ihn zu locken schienen.
Er begann, von der Rettungsleine ihrer Handschrift zu träumen, doch den genauen Klang ihrer Stimme konnte er sich schon nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Wenn er an Dinge dachte, die sie gesagt hatte, hörte sich Bettys Stimme gedämpft an, so als stünde sie auf der anderen Seite einer Mauer. Er streifte durch die Berge und seine Gedanken wanden sich um den Brief in seiner Truhe und die Hoffnung, dass die Worte darin ihm ihre Stimme zurückbringen würden.
Zurück auf dem Hof saß er stundenlang da, drehte den Brief zwischen seinen Fingern und ließ sich von der hypnotisch langsamen Bewegung einlullen, so wie sein Großvater es oft mit einer Spielkarte getan hatte. Dann dachte er an Bettys Bitte – kümmer dich um Finn – und fragte sich, ob er dem Jungen irgendetwas geben konnte, was ihn für den nicht erhaltenen Brief entschädigen würde.
Ein Jahr nach Bettys Verschwinden erschien ihm die Antwort auf diese Frage. Finn und er saßen auf Gartenstühlen neben der Kate in der Sonne, die Felswand dahinter in goldenes Licht getaucht, der Himmel tiefblau, als Daniel sich räusperte und sagte: »Ich würde dir gern etwas beibringen, was meine Mutter mir gezeigt hat.«
Seine Mutter hatte ihm diese Sache gezeigt, kurz bevor sie selbst Thunderstown verlassen hatte. Sie zu verlieren war nicht so ein Schock gewesen wie Bettys Abreise, aber er hatte lange darunter gelitten, wie an einer quälenden Infektion. Er hatte immer gewusst, dass sie eines Tages gehen würde. Er hatte es gewusst, als er Krabbeln gelernt hatte, selbst als er gelernt hatte, ihren kleinen Finger zu greifen und »Mama« zu sagen. Um genau zu sein, hatte er es von dem Moment an gewusst, als er zum ersten Mal miterlebt hatte, wie sein Vater sie beschimpfte.
Doch sie hatte ihn nicht verlassen, ohne ihm vorher noch etwas beizubringen, das ihm seit seiner Kindheit Freude bereitet hatte: Papiervögel. Sie hatte immer ein großes Geheimnis daraus gemacht, wie sie sie faltete. Manchmal fand er abends einen auf seinem Kopfkissen oder in seiner Schultasche und jedes Mal machte er sich sofort daran, sie auseinanderzunehmen, um zu verstehen, wie aus den Falten Schnabel und Flügel wurden. Doch ihre Konstruktion blieb ihm ein Rätsel und seine Mutter schwieg. Sie schien mit dem Wesen der Vögel so intuitiv vertraut zu sein, dass sie ohne jede Anleitung aus einem einzigen glatten Stück Papier jede nur erdenkliche Art falten konnte.
Dann, in ihrer letzten Woche in Thunderstown, als ihre Koffer schon gepackt waren, hatte sie Daniel vor einen Stapel Papier an den Tisch gesetzt und seine Finger beim Falten angeleitet.
Daniel hatte sich alle Mühe gegeben, als er sein Wissen an Finn weitergab, doch ihm war bewusst, dass seine eigenen ungelenken Versuche nicht viel von der Grazie seiner Mutter besaßen. Trotzdem machte er sich gewissenhaft ans Werk, und seine Zungenspitze lugte vor lauter Konzentration unter seinem Schnauzbart hervor. Das Ergebnis hielt er schließlich hoch ins Sonnenlicht. Eine Papiertaube mit ausgebreiteten Flügeln.
Finn nahm ihm dem Vogel aus der Hand und drehte ihn ehrfürchtig hin und her. Er hielt ihn so behutsam an den Flügeln, als hätte er Angst, ihn zu verletzen.
»Ich dachte, das würde dir gefallen«, sagte Daniel und schob Finn ein Blatt hin. »Hast du gesehen, wie es geht?«
Finn nickte und machte sich eifrig an die Arbeit. Wenn der Junge einen Fehler machte, streckte Daniel schweigend die Hand aus, um die Position seiner
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