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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Versuch, sich das Leben zu nehmen, indem man die Luft anhielt. Man hätte den gesamten Drum Head aus der Erde reißen und ihm auf die Brust setzen können und doch wäre die Last nicht halb so groß gewesen wie die der Erkenntnis, dass er Betty seine eigene verdammte Angst eingepflanzt hatte, obwohl er sie mit jeder Faser seines Körpers geliebt hatte.
    Und schlimmer noch, sie hatte vorgehabt, nur kurz fortzubleiben. Manchmal in den vergangenen acht Jahren hatte Daniel gehofft, dass sie gelogen hatte, als sie das an jenem Tag, als sie Thunderstown verließ, zu ihm gesagt hatte. Wenn es eine Lüge gewesen wäre und somit ein Zeichen ihrer Gleichgültigkeit ihm gegenüber, dann hätte er sich zumindest einreden können, dass sie sich irgendwo in einer neuen Umgebung ein neues Leben aufbaute, und so schmerzvoll diese Vorstellung auch war, beinhaltete sie doch immerhin, dass Betty am Leben war. Aber was, wenn sie, durch einen Unglücksfall oder irgendeine Fügung des Schicksals, eine Reise unternommen hatte, von der es keine Wiederkehr gab?
    Die Fossiter-Porträts an den Wänden blickten ihn schweigend an. »Zum Teufel mit euch«, knurrte er in ihre Richtung. »Zum Teufel mit euch allen.« Er konnte es nicht ertragen, weiter in ihrer Nähe zu sein, und so stürmte er nach draußen, hinaus ins Licht des späten Tages. Auf dem Hof blieb er stehen und biss sich hart auf die Zunge. Er fragte sich, was er hätte tun oder zu ihr sagen können, wenn er gewusst hätte, was er heute wusste.
    Er stapfte in die Werkstatt. Drinnen hing der Kadaver der letzten Ziege, die er getötet hatte, geköpft und mittlerweile bis auf den letzten Tropfen ausgeblutet. Daniel löste den Knoten des Stricks und warf das Tier auf die Schlachtbank, eine Art hölzernen Arbeitstisch, befleckt mit dem Blut von Generationen von Ziegen, das Generationen von Fossiters vergossen hatten. Die Oberfläche war mit den Einkerbungen ihrer Axthiebe übersät wie eine Kerkerwand.
    Er hatte sich oft gefragt, worin sich die von Gier und Geschrei geprägte Existenz der Ziegen eigentlich von der der Menschen unterschied. Eine Ziege lebte ihr Leben genauso wie jede einzelne Ziege jeder Generation vor ihr. Sie knabberte an allem, was sie erreichen konnte, wetzte ihre Hörner an der Borke von Bäumen, bekam im Herbst ihr Winterfell und wurde im Frühjahr brunftig. Alle diese Phasen durchlief sie mit demselben steinernen, gleichgültigen Blick, als wäre ihr Leben nichts als eine endlose Routine, die sich Millionen Male wiederholte, eine Aufgabe, die sie pflichtschuldig erledigte, ohne sie zu hinterfragen.
    Aber ein Mensch … In den Augen eines Menschen glomm ein Feuer, ein Funke. Sein Leben erschien ihm wie ein kostbares Flämmchen, das er sorgsam hegte. Was war dieses Feuer, fragte sich Daniel, und woher kam es?
    »Betty!«, keuchte er unwillkürlich in Richtung Decke.
    Und warum redete er jetzt mit der Decke? Weil er glaubte, dass Gott da oben war? Gott im Himmel? Gott auf dem Speicher der Werkstatt? Die Ziegen meckerten nicht gen Himmel, wenn sie qualvoll verendeten, die Beine in eisernen Kiefern verfangen. Dort oben im Himmel gab es bloß Wind und Wasser und Staub und dann ein Nichts, das jenseits der menschlichen Vorstellungskraft lag, so endlos, dass man es nicht einmal in Lichtjahren hätte messen können. Daniel schloss die Augen und stellte sich Gott den Vater auf seinem Thron vor und Gott der Vater hatte zusammengezogene Brauen, eine lange Nase und einen schwarzen Bart. Gott der Vater war ein Fossiter.
    Daniel griff nach seinem Metzgermesser und wandte sich wieder dem Kadaver auf der Schlachtbank zu. Nachdem er das schmutzige Fell zwischen den Hinterbeinen der Ziege beiseitegestrichen hatte, grub er das Messer in die Leistengegend und schnitt ein Loch für die schleimigen Innereien, die er mit der Faust herauszog und in eine Schüssel fallen ließ. Dann setzte er mit der Klinge ein geübtes Muster aus Schnitten und Schlitzen, bis er schließlich die Haut des Tieres greifen konnte. Mit ein paar kräftigen Rucken befreite er den Kadaver von der Haut, so problemlos wie einen Menschen von einer Strickjacke.
    Er rieb Salz in die frische Ziegenhaut und hängte sie zum Trocknen auf. Dann nahm er das Beil, hackte zügig durch Fleisch und Knochen und zerlegte den Kadaver in gleichmäßige Stücke. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
    Er wirbelte herum und schleuderte das Beil durch den Raum. Pfeifend segelte es durch die Luft und grub sich ins Holz der Türzarge.

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