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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Dann trat Daniel die Blutwanne um, sodass das glitschige Gemisch aus Gedärmen und anderen Organen an die Werkstattwand spritzte. Seine Hände zitterten und er kniff die Augen zu und schrie in die Dunkelheit seines Bewusstseins hinaus. Nachdem er das Beil aus der Türzarge gerissen hatte, stapfte er zurück zum Haus. Der erste erreichbare Gegenstand war das Bücherregal seines Vaters, das er mit einem einzigen Ruck von der Wand riss, sodass sich die Bücher kreuz und quer auf dem Boden verteilten. Er ließ sich auf die Knie fallen und schlug die Klinge des Beils in einen Einband nach dem anderen, bis der Boden von einer schneeweißen Schicht aus Papier bedeckt war. Dann sprang er wieder auf und wandte sich dem Lieblingssessel seines Großvaters zu, hieb auf die Armlehne ein und riss die Polster auf, bis er vor lauter Staub und Federn in der Luft husten musste. Er trat den Tisch um und rammte seinen Kopf gegen das Porträt seines Ururgroßvaters, sodass die Leinwand brach. Er hackte und schlitzte sich durch die Ahnengalerie, bis er vor seiner alten Truhe in der Ecke stand. Wie von Sinnen riss er den Deckel auf- und hielt dann inne.
    Die Papiervögel verwandelten seine Raserei in feierlichen Zorn.
    Daniel nahm die Violine seines Großvaters und die schwere Bibel seines Vaters aus der Truhe. Dann stellte er den Tisch wieder hin und legte beide Gegenstände darauf, erst das Buch und zuoberst das Instrument. Einen Moment lang starrte er nur darauf, dann hob er mit beiden Händen das Beil über den Kopf und ließ es mit aller Kraft niedersausen. Die Klinge glitt sauber durch die Violine und ein paar durchtrennte Saiten schnellten durch die Luft. Sie hackte die Bibel entzwei wie einen Apfel und blieb in der Tischplatte darunter stecken.
    Daniel fiel rückwärts auf den Steiß und blieb keuchend sitzen.
    Nachdem eine Weile vergangen war, wurde ihm langsam bewusst, wie er sein Zuhause zugerichtet hatte. Plötzlich erfüllten ihn Zweifel und Aberglaube und er streckte die Hand nach der einen Hälfte der Violine aus. Zu seiner Überraschung sah er, dass in ihrem Inneren mit Klebefilm ein gefaltetes Stück Papier befestigt war. Sein Großvater musste es im Gehäuse der Geige versteckt haben. Daniel zog es heraus und faltete es vorsichtig auseinander.
    Ein Foto von seiner Mutter und seinem Vater.
    Seine Mutter, Maryam. Es war das erste Mal seit seinem siebten Lebensjahr, dass er sie sah.
    Bei ihrem Anblick keuchte er auf. »Du!«, stieß er hervor und strich mit dem Finger über ihr Gesicht. Er war immer davon ausgegangen, dass er das Aussehen der Fossiter-Linie geerbt hatte, jetzt aber stellte er erstaunt fest, dass er auch seiner Mutter ähnlich sah. Sie hatte seine strengen Brauen und dunklen Augen und auch ihr Haar war so schwarz wie seins, nur dass ihres ihr bis zu den Ellbogen reichte. Außerdem war da noch irgendetwas in ihren Augen, das er nicht genau bestimmen konnte, eine Art kühle Weisheit. Sie wirkte, als hütete sie ein großes Geheimnis. »Du«, flüsterte Daniel und fuhr ihre Silhouette nach.
    Ihr dünnes Kleid war aus einem halb transparenten Material geschneidert und in dem Moment, als das Foto aufgenommen worden war, hatte ein Windstoß den Stoff erfasst und zusammen mit ihren langen schwarzen Locken in die Luft gewirbelt, sodass es wirkte, als wäre sie halb Frau und halb aus Nebel gemacht. Eine Weile starrte er sie an, ohne zu blinzeln, aus Angst, dass sich auch dieses Bild als so vergänglich erweisen würde wie die Bilder in seinen Träumen und unter den anderen Erinnerungen verschwinden würde. Bald begannen seine Augen zu tränen und er musste ihnen Erleichterung verschaffen, doch zu seiner Freude war das Foto noch da, als er sie wieder öffnete. Daniel sank auf die Bodendielen und legte sich auf den Rücken, das Foto noch immer fest umklammert. Er fühlte sich wie abgeschnitten von dem Mann, der er gestern gewesen war, sogar von dem, der er noch vor einer Stunde gewesen war. Abgeschnitten und hilflos, verloren in kalter Dunkelheit. Er begann zu zittern. Es war ein warmer Tag und das Sonnenlicht, das zu den Fenstern hereinschien, fiel direkt über seinen Körper. Trotzdem war ihm eiskalt.
    Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sein Atem als Wolke vor ihm in der Luft hing.
    Er stand auf und kroch auf allen vieren rückwärts, doch auch der nächste Atemstoß und der darauf blieben dort hängen, wo sie seinen Körper verlassen hatten. Eine Trilogie aus schimmernden Schwaden, so als wäre die warme Luft im Haus

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