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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Thunderstown sorgte.
    Mit einem Stöhnen kauerte er sich hin, um einen Stein aufzuheben. Er warf ihn ein paarmal in die Luft und fing ihn wieder auf, um ihn schließlich mit aller Kraft in Richtung der Falle zu schleudern. Ein Knallen und Scheppern ertönte, als der Stein auf den Teller traf und die Bügel zusammenschnappten. Daniel ging weiter die gewundenen Pfade entlang, und als er die nächste Falle erreichte, machte er sie ebenfalls unschädlich und immer so weiter, bis am späten Nachmittag keine einzige Falle an diesem Berghang mehr scharf war.
    Als er nach Hause kam, wusch er sich mit kaltem Wasser, schöpfte es sich mit beiden Händen über Gesicht und Haare. Dann betrachtete er sich im Spiegel, während ihm die Tropfen aus dem Bart rannen. Er versuchte, all die neuen Falten und grauen Haare zu zählen, die Betty nicht wiedererkennen würde, sollte sie jemals zurückkommen, doch es waren einfach zu viele.
    Als er sich abgetrocknet hatte, tappte Daniel nach unten in die Küche, schnitt sich eine dicke Scheibe Brot ab, belegte sie mit Tomatenscheiben und nahm sie mit in den Wohnbereich in der großen Halle. Dicke Holzbalken stützten die Decke und am gegenüberliegenden Ende des Raums befand sich ein eindrucksvoller Kamin (der genauso selten angezündet wurde, wie Daniel die Kälte spürte), umgeben von weichen Sesseln, in die er sich nie setzte. Die Wände der Halle waren mit den Porträts von Fossiter-Ahnen überzogen, die alle dieselbe krausgezogene Stirn und denselben sorgsam gestutzten schwarzen Bart hatten wie Daniel. Die früheren Generationen hatten in diesem Haus große Familien aufgezogen und doch waren an diesen Wänden weder Bilder von Kindern noch von deren Müttern zu sehen. Seine Ahnen hatten für beides wenig Zeit gehabt.
    Daniel setzte sich an den wuchtigen Holztisch, an dem die Fossiters über Jahrhunderte ihre Mahlzeiten eingenommen hatten. Er biss in sein Brot, doch kaum hatte er sich zum Essen hingesetzt, war sein Appetit wie weggeblasen.
    Daniel hatte immer gewusst, dass er innerlich zwiegespalten war. Auf der einen Seite stand seine besonnene, ernsthafte Persönlichkeit, die die Bewohner von Thunderstown als ihren Daniel Fossiter kannten. Diese Seite seines Charakters nutzte er zum logischen Denken und Planen. Seine andere Seite jedoch war nicht dafür geschaffen, zu manipulieren oder Reaktionen abzuschätzen. Sie wogte irgendwo tief in seinem Inneren wie ein Ozean unter einem Boot, das auf der Oberfläche schaukelte. Diese Seite von ihm hatte ihre eigenen Ansichten über das Leben, in die er nicht eingeweiht war, hin und wieder aber erhaschte er einen flüchtigen Blick darauf, wie auf einen Wal, der unter Wasser vorüberglitt. In anderen Momenten überspülten sie ihn mit so intensiven Emotionen, dass er nichts tun konnte, außer sich an einen soliden, rationalen Gedanken zu klammern, bis die Wogen sich wieder glätteten. Denn das taten sie, früher oder später – oder zumindest war es bisher immer so gewesen.
    Er stand auf, ging zu seiner Truhe und hob behutsam den hölzernen Deckel an. Drinnen lagen die Papiervögel, die Finn für ihn gefaltet hatte und die er nun beiseiteschob, ganz vorsichtig, um ihre Flügel nicht zu zerknicken. Darunter lagen die Bibel seines Vaters und die Violine seines Großvaters sowie, dazwischen eingeklemmt, der Brief, den Betty vor langer Zeit an Finn geschrieben hatte.
    Er ging zurück zum Tisch und legte den Brief sorgfältig auf die Platte, sodass seine Ränder genau mit der Tischkante abschlossen. Er fragte sich, ob er noch länger würde warten können.
    Er rief sich seine kostbarste Erinnerung an Betty ins Gedächtnis. Es war einer seiner Geburtstage, den er, wie schon alle anderen Geburtstage zuvor, unbemerkt hatte verstreichen lassen wollen. Er dachte daran, wie er nachmittags von der Arbeit zurück auf den Hof gekommen war und die Halle über und über voller Blumen gewesen war. Auf dem Tisch hatte ein Kuchen gestanden, aus rostrotem Biskuitteig mit Fruchtstücken so dunkel wie Tintenkleckse darin. Betty, die ihn gebacken hatte, stand in der Tür, einen albernen spitzen Partyhut auf dem Kopf, und hielt ein in buntes Papier gewickeltes Geschenk für ihn in der Hand.
    Eine weitere Erinnerung, diesmal war es späte Nacht, als er ein Geräusch an seinem Schlafzimmerfenster hörte. Erschrocken setzte er sich im Bett auf, die Fäuste gehoben wie ein Boxer. Es war Betty, die, in einem Kleid so bleich wie das Mondlicht, zum Fenster hereinkletterte. Es

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