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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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machte ihre nackten Schultern zu denen einer Marmorstatue, doch anstatt ihre Erscheinung ehrfürchtig zu bewundern, hatte er sie ausgeschimpft, dass das Haus für solche Zwecke eine Tür besaß. Sie hatte erwidert, das Leben sei besser, wenn man sich einfach von ihm tragen lasse.
    Heute brauchte er ihre Weisheit mehr als je zuvor und so begann Daniel, den Umschlag aufzureißen. Einen Moment lang hielt er inne und überlegte; dieses Kuvert mit seinen groben Fingern zu öffnen wäre, wie ein Schmuckkästchen mit einem Rammbock zu bearbeiten. Er eilte zur Anrichte und holte den schlanken silbernen Brieföffner seines Vaters hervor. Diesen schob er sorgfältig durch den Schlitz zwischen der zugeklebten Gummierung und der Ecke des Umschlags hindurch.
    Er hob das Papier hoch und presste die Nase an die Klebestelle. Sie roch nicht, wie er gehofft hatte, nach Betty, also versuchte er sich den Duft ihres Lieblingsparfüms vorzustellen. Es gelang ihm nicht.
    Egal. Die Worte waren alles, was zählte. Nach acht geduldigen Jahren würde er endlich wieder an ihren Gedanken teilhaben. Allein die Form ihrer Handschrift würde genügen.
    Er öffnete den Umschlag. Über diesen Moment hatte er so oft spekuliert, fantasiert und nachgegrübelt, dass er am Anfang kaum den Mut fand, hinzusehen.
    Darin waren zwei Blätter Papier, die er auseinanderfaltete. Er starrte auf die Zeilen ihrer Handschrift, ohne es zu wagen, die Worte zu lesen. Stattdessen genoss er den Moment, sog das Spiel ihrer Sätze in sich auf und stellte es sich wie einen Tanz zwischen ihrer Hand und dem Füller darin vor. Dann wischte er sich mit dem Ärmel übers Gesicht und begann zu lesen.
     
    #Finn, es gab schon so viele Versionen dieses Briefs. Den ganzen Tag lang versuche ich nun schon, ihn zu schreiben. Und wenn du diesen Worten nur eine einzige Sache entnehmen kannst, dann sollte es diese hier sein: Ich habe dich nicht verlassen. Bitte, denk das nicht eine einzige Sekunde.
    In den letzten Monaten hat sich einiges geändert und ich brauche Ruhe, um meine Gedanken zu ordnen. Du sollst jedoch wissen, dass ich dir wegen der Verbrennungen, die du mir durch den Blitz zugefügt hast, nicht böse bin. Es war nicht dein Fehler, genauso wenig, wie es dein Fehler ist, dass ich für eine Weile fortgehen muss.
    Ich habe immer gewusst, dass du ein Gewitter in dir trägst, und ich habe es von Anfang an akzeptiert. Daniel hat mich wieder und wieder darauf hingewiesen, du könntest gefährlich sein, und ich konnte ihm einfach nicht begreiflich machen, dass möglicherweise jeder von uns eine Gefahr für andere ist, solange wir nicht wissen, was in uns ist. Jetzt weißt du es selbst und ich habe das Gefühl, dass ich dich schon vor langer Zeit hätte warnen sollen. An deinem letzten Geburtstag wollte ich es dir erklären. Sechzehn Jahre schien mir ein passendes Alter, um es dir zu sagen, aber ich fand einfach nicht die richtigen Worte. Erinnerst du dich an dein Geburtstagspicknick auf dem Drum Head, als ich plötzlich so schweigsam war und du mich gefragt hast, was los ist? Damals wollte ich es dir erzählen. Dir erzählen, dass du einst eine Gewitterwolke gewesen bist und dass ich dich trotzdem liebe.
    Und doch habe ich Angst. Ich schreibe diese Worte nieder, anstatt sie auszusprechen, weil ich so etwas niemals sagen könnte. Wie kann ich dir diese Angst erklären? Es ist so … Das Schönste daran, Kinder zu haben, ist, ihnen etwas weitergeben zu können. Davon habe ich immer geträumt: all das, was in meinem eigenen Leben gut war, weiterzugeben, und all das, was schlecht war, zu verbergen. Und ich frage mich, ob es das ist, was wir in Wirklichkeit sind: ein Filter für das Gute und das Schlechte, immer bemüht, beides zu unterscheiden, was wir für uns behalten und was wir weitergeben sollten. Also, bevor ich gänzlich abschweife und diesen Brief zum hundertsten Mal von Neuem beginne, lass mich deutlich machen, was ich dir eigentlich sagen will: Ich habe Daniel Fossiter für kurze Zeit geliebt. Er war so von seinen Ängsten beherrscht, aber manchmal gelang es mir, zu ihm durchzudringen und einen Teil von ihm hervorzulocken, der wie ein kleiner Junge war, bereit, sich ins Leben zu stürzen, und das habe ich an ihm geliebt. Doch zugleich hat er die ganze Zeit versucht, etwas an mich weiterzugeben. Diese Ängste, mit denen er aufgewachsen war und mit denen er sich umgab – er wollte, dass auch ich sie spürte. Im Grunde war es bloß Furcht vor unerklärlichen Dingen. Furcht vor

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