Der Mann, der den Zügen nachsah
Zigarette anzuzünden, und entschied kurz und knapp:
»Wir werden gleich weitersehen! Bleiben Sie da oben und warten Sie. Wir, das heißt eine ganze Gesellschaft, soupieren gegenüber…«
Es war nahezu Mitternacht. Die Blumenhändlerin war verschwunden, zwei Neger ebenfalls. Von Zeit zu Zeit kam ein Portier von einem Nachtlokal in Begleitung eines Taxifahrers oder eines anderen herein, handelte etwas mit ihm aus, stürzte ein Glas hinunter und nahm dann wieder seinen Posten auf der anderen Straßenseite ein.
Niemals hatte Popinga sich ein so kümmerliches Weihnachten vorgestellt, und Schlag Mitternacht wartete er vergeblich auf das Glockengeläute. Es paßte nur zu gut, daß ein Betrunkener aufstand und ein »Mitternacht, ihr Christen« anstimmte, wovon er die erste Strophe nur zur Hälfte kannte. Dann bequemte sich der Wirt, das Radio einzuschalten, und im nächsten Augenblick dröhnte das Lokal mit einemmal von Orgelklang und von Männer- und Kinderstimmen, die eine Liturgie sangen.
Kees faltete seine Zeitungen zusammen und bestellte noch einen Kaffee, denn er hatte schon keine Lust mehr auf Alkohol. Er horchte auf das »Dominus vobiscum« des Priesters, der sich den Gläubigen zuwandte.
Ein schlechtgekleidetes Straßenmädchen vor ihm war ganz blaß, aber das lag wohl an der Kälte, denn sie kam alle Stunden ganz durchfroren von draußen herein.
Und die Autos, die ständig vor den Nachtlokalen anhielten… Und die drei Neger, die leidenschaftlich diskutierten… Worüber wohl?
Das Erstaunlichste aber, daß zu dieser gleichen Stunde auf der ganzen Erde, in allen Kirchen…
Popinga stellte sich die Erde vor, wie man sie von einem Flugzeug aus gesehen hätte, wenn es nur schnell genug hätte fliegen und hoch genug hätte steigen können: eine riesige Kugel, weiß von Schnee, mit Städten und Dörfern und den Fixpunkten ihrer Kirchen, deren Glockentürme wie gigantische Pfähle aufragten… Und in all diesen Kirchen brannten Kerzen, stieg Weihrauch empor und Gläubige wurden still im Anblick einer Krippe…
Doch das stimmte auch wieder nicht! Zunächst, in Mitteleuropa war die Mitternachtsmesse zu Ende, während es weiter unten ein Uhr war. In Amerika war sogar noch heller Tag! Und überall, außerhalb der Kirche, sprachen Neger über ihre Sorgen, Straßenmädchen wärmten sich nach ihren Strichgängen mit einem Kaffee auf, während die Hotelportiers…
Von da an ließ er sich darauf nicht mehr ein. Er hatte nicht die geringste Lust, mit dem Radio mitzusummen; außerdem hatte der Wirt, der geglaubt hatte, seinen Kunden etwas zu Gefallen zu tun, oder der vielleicht selbst ein ehemaliger Chorknabe war, sich genötigt gesehen, den Apparat abzuschalten, denn man verstand sein eigenes Wort nicht mehr, und die Leute revoltierten.
Mit einemmal hörte man wieder die Stimmen der Gäste, und der Zigarettenrauch bildete eine blaue Schicht zwei Meter unterhalb der weißen Zimmerdecke, während gegenüber von Popinga ein junger Mann in einem zu engen Smoking, ganz allein vor einem Glas Mineralwasser sitzend, sich ein weißes Pulver in die Nase schob.
Warum hatte man ihn gefragt, ob er chauffieren könne? Und was hätten alle diese Leute um ihn herum gesagt, wenn er plötzlich aufgestanden wäre und erklärt hätte:
»Ich bin Kees Popinga, der Satyr von Amsterdam!«
Denn so hatte eine Pariser Abendzeitung ihn buchstäblich genannt!
Um zwei Uhr morgens war er immer noch da, auf dem gleichen Platz, und der Kellner, der ihn allmählich kannte, zwinkerte ihm zu, wenn er vorbeiging. Er wußte nicht mehr, was er noch trinken sollte. Er machte es wie der junge Mann gegenüber: Er bestellte Mineralwasser. Dann, als alle Welt aufbrach, blieb er als einziger sitzen.
An der Bar war ein Streit ausgebrochen. Man hörte Männer, die sich anbrüllten. Irgendeiner schwang einen Siphon, der dann auf einem der Tische zersplitterte, und im nächsten Augenblick drängte eine Menschentraube aus dem Lokal hinaus auf den Bürgersteig, wo man alsbald ein wildes Knäuel in Bewegung sah.
Von irgendwo her ertönte eine Trillerpfeife. Popinga raffte, ohne sich aufzuregen, seine Zeitungen zusammen, ging hinunter ins Lavabo und schloß sich dort in einer der Kabinen ein, wo er ganz mechanisch irgendeinen Artikel über die wirtschaftliche Entwicklung Hollands im 18. Jahrhundert las.
Als er eine Viertelstunde später wieder hinaufkam, war
alles ruhig, und es lagen nur noch die Scherben des
Weitere Kostenlose Bücher