Der Mann, der den Zügen nachsah
Möglichkeiten erwogen und war bereit, dem Kommissar Rede und Antwort zu stehen, was auch immer er fragen würde.
Der ließ sie, aus Prinzip, eine gute Viertelstunde im Flur warten, aber Jeanne Rozier war genügend mit den Bräuchen des Hauses vertraut, um nicht die geringste Ungeduld zu zeigen.
»Kommen Sie herein, mein Kleines… Entschuldigen Sie, daß ich Sie genötigt habe, so früh aufzustehen…«
Sie setzte sich neben den Mahagonischreibtisch, legte ihr Handtäschchen darauf, und blickte den Kommissar Lucas an, der kahlköpfig war und sich sehr väterlich gab.
»Es ist lange her, daß Sie einmal hier waren, nicht wahr? Ja, das letzte Mal, wenn ich mich recht erinnere, war vor drei Jahren im Zusammenhang mit einer Rauschgiftaffäre. Sagen Sie, anscheinend sind Sie nicht mehr mit Louis zusammen?«
Die beiden ersten Sätze waren reine Phrasen, um eine vertrauliche Atmosphäre herzustellen, aber bei dem dritten zuckte Jeanne zusammen, gleichwohl antwortete sie:
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Ich erinnere mich nicht genau. Gestern abend, als ich am Montmartre Heiligabend feierte, hat mir irgendwer erzählt, Sie hätten sich mit einem Ausländer eingelassen, einem Deutschen oder Engländer…«
»Im Ernst?«
»Und eben darum habe ich Sie auch gebeten herzukommen. Es würde mir leidtun, wenn Sie Ärger bekämen…«
Wenn man sie so hörte, hätte man sie für gute Freunde gehalten. Der Kommissar ging auf und ab, die Finger in den Ärmelausschnitten seiner Weste. Er hatte seiner Besucherin eine Zigarette angeboten, und sie rauchte mit übereinandergeschlagenen Beinen und mit starrem Blick auf ein verlassenes Seine-Ufer und auf das Ende einer Brücke mit vorüberfahrenden Bussen.
»Ich glaube, ich weiß schon, was Sie sagen wollen«, murmelte sie nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Ich wette, Sie meinen den Kunden von vorgestern…«
Und Lucas tat verwundert.
»Ach so! Das war ein Kunde? Mir sagte man…«
»Etwas anderes zu erzählen gab es nicht. Wenn Sie so etwas gehört haben, dann von Freddy, dem Oberkellner im Picratt’s. Dort war schon nahezu Schluß, als der Holländer reinkam und sich partout amüsieren wollte. Er hat mich an seinen Tisch eingeladen, hat Champagner bestellt und beim Bezahlen hat er sich Gulden einwechseln lassen. Wir sind in die Rue Victor-Masse gegangen, wo ich immer hingehe, weil es da anständig sauber ist. Und wir sind zu Bett. Er hat mich nicht einmal angerührt.«
»Warum?«
»Wie soll ich das wissen? Am Morgen hatte ich es satt, mit diesem Suppenkloß zu schlafen, und bin gegangen.«
»Mit seinem Geld?«
»Nein. Ich habe ihn aufgeweckt, und er hat mir tausend Francs gegeben.«
»Für nichts und wieder nichts?«
»Was kann ich denn dafür!«
»Und Sie sind zu sich nach Hause? Haben Louis vorgefunden…«
Sie nickte bejahend.
»Richtig, und was ist jetzt mit ihm, mit Louis? Stimmt es, daß er heute morgen nicht da war?«
Jetzt blitzte es in den Augen von Jeanne Rozier auf.
»Ich wäre neugierig zu hören, wo er jetzt ist!« knurrte sie.
»Sie waren also gestern abend nicht zusammen?«
»Eben doch! Wir feierten Heiligabend mit alten Freunden, sehr anständig… Ich weiß nicht, welches Flittchen ihm zugeblinzelt hat, aber ich weiß, daß er sich englisch empfohlen hat und daß er zum Schlafen nicht nach Hause gekommen ist.«
»Arbeitet er viel?«
Sie lachte bitter.
»Warum sollte er arbeiten? Glauben Sie, er hätte mich nötig, wenn er arbeitete?«
Lucas lächelte. Jeanne Rozier seufzte, als wollte sie fragen, ob es nun zu Ende sei. Jeder hatte seine Rolle so vollendet gespielt, wie er konnte, und jeder behielt weiter seinen Argwohn und seine Hintergedanken.
»Ich darf also wieder in mein Bett?«
»Aber selbstverständlich… Noch eins, wenn Sie zufällig Ihren Holländer wiedertreffen…«
»Dann werde ich ihm erst mal eine runterhauen!« erklärte sie. »Mir graut vor solchen Sittenstrolchen… Wenn Sie glauben, ich wüßte nicht, weshalb Sie mich hier eine Viertelstunde lang ausfragen… Schließlich habe ich auch die Zeitungen gelesen! Wenn ich denke, mich hätte das gleiche Schicksal treffen können wie diese Tänzerin aus Amsterdam…«
»Sie haben ihn nach seinem Foto erkannt?«
»Da müßte ich lügen. Er hat keine Ähnlichkeit mit seinem Foto. Trotzdem hatte ich so eine Ahnung…«
»Hat er Ihnen nichts gesagt? Keine Andeutung, was er vorhatte?«
»Er
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