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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Siphons am Boden. Gäste waren keine mehr da. Der Kellner näherte sich mit einem vertraulichen Augenzwinkern, denn er hatte das kluge Verschwinden seines Kunden wohl bemerkt.
      »Hat man viele festgenommen?« erkundigte sich Popinga.
      »Wissen Sie, an Weihnachten sind die nicht so besonders streng. Sie haben zwei mit aufs Revier genommen, aber die lassen sie am Morgen wieder frei…«
      Jeanne Rozier kam herein, in großem Abendkleid, parfumduftend, die Haut gerötet und etwas feucht, wie eine, die viel getanzt hat. Sie schaute mal eben herein, sozusagen aus der Nachbarschaft, und hatte nur einen Mantel um ihre nackten Schultern geworfen.
      »Haben Sie keinen Ärger gehabt? Wie ich höre, hat’s Krawall gegeben.«
    »Aber nein! So gut wie gar nicht!«
      »Ich glaube, daß Louis sich Ihrer annehmen wird. Er schien noch nicht ganz entschieden, aber das ist bei ihm immer so. Vor allen Dingen gehen Sie nicht, bevor ich nochmal wiederkomme!
      Wenn Sie wüßten, wie heiß es da drinnen war! Man hat nicht einmal Platz, mit seiner Gabel zu hantieren…«
      Sie machte den Eindruck, als nähme sie ihn unter ihre Fittiche, doch zugleich sah sie ihn mit einer gewissen Ängstlichkeit an, so, als habe er sie eingeschüchtert.
    »Wird Ihnen die Zeit nicht zu lang?«
    »Nicht im geringsten.«
    Als sie schon gegangen war, wurde ihm bewußt, daß sie ihn nicht mehr geduzt hatte, und das tat ihm wohl. Sie jedenfalls hatte verstanden! Das war nicht eine dumme Gans, die nur ohne Sinn und Verstand loslachte.
      Er nahm sein Notizbuch aus der Tasche. Auf die Seite, auf der sich die Meinungen von Mama, von dem Bahnbeamten, von Copenghem, von dem Portier und anderen aneinanderreihten, schrieb er: Jeanne Rozier sieht in mir ganz gewiß keinen Verrückten!
      Eine kleine Hure, gleich der, die schon mehrmals ins Lokal gekommen war, fragte ihn, ob er ihr ein Glas spendieren würde, und er gab ihr fünf Francs, wobei er ihr zu verstehen gab, daß sie weiter nichts zu erhoffen habe.
      Er hatte seine Zeitungen vorsorglich zusammengefaltet. Er wartete. Wieder dachte er an die sonderbaren Augen von Frida und fragte sich, wie ihr Leben weitergehen würde.
      Ihm war sehr heiß, aber er hatte weiter das Gefühl, daß er noch nie so kühl im Kopf, so hellwach im Geist gewesen sei. Würde Frau Popinga ihr Vorhaben, als Wirtschafterin in einem Hotel in Niederländisch-Indien zu arbeiten, in die Tat umsetzen?
      Ihm kam der Gedanke, eine kleine Anzeige für Julius de Coster an die Morning Post zu schicken mit weiter nichts als: »Wie geht es Ihnen?«
      Er konnte sich alles erlauben! Jetzt, da er um jeden Preis und für alle Welt darauf verzichtet hatte, der Prokurist Kees Popinga zu sein, konnte er sein, was immer ihm gefiel!
      Man denke, wie lange er sich unsägliche Mühe gegeben hatte, seine Persönlichkeit zu vervollkommnen, damit auch der kritischste Blick nicht an irgendeiner Kleinigkeit Anstoß nehmen könnte. Was aber Copenghem nicht gehindert hatte, den Reportern zu erklären, daß…
    Er hätte augenblicklich eine ganze Flasche Genever oder
    Cognac bestellen können! Er hätte die Kleine, der er fünf Francs geschenkt hatte, mitnehmen können! Er hätte das Nervenbündel von einem jungen Mann um etwas Kokain bitten können! Er hätte…
    »Kellner, bringen Sie mir noch ein Mineralwasser.«
      Aus Protest gegen alles, was er hätte tun können. Und auch weil er sich damit wohlfühlte, sehr wohl sogar, geradezu rauschhaft klarsichtig. Ja, er war überzeugt, daß es nur an ihm läge, Jeanne Rozier in sich verliebt zu machen, trotz ihres Gigolo…
      Sie kam gegen vier Uhr morgens, ein wenig beschwipst. Sie schien überrascht, ihn noch vorzufinden, wunderte sich:
    »Sie haben aber Ausdauer, Sie!«
    Dann in einem anderen Ton:
      »Louis und die anderen haben nicht allzu viel Zutrauen. Ich habe getan, was ich konnte. Folgendes habe ich erreichen können: In wenigen Minuten werden die aus dem Nachtlokal kommen und zwei Wagen besteigen. Sie werden ohne Aufenthalt durchfahren bis zur Porte d’Italie. Kennen Sie die?«
    »Nein!«
      »Schlimm! Dann haben Sie kaum eine Chance, daß es gelingt. Die wollen nämlich, daß auch Sie sich einen Wagen nehmen. An der Porte d’Italie werden die kurz auf Sie warten, und Sie geben, sobald Sie ankommen, ein Zeichen mit den Scheinwerfern. Danach brauchen Sie sich nur hinter denen zu halten.«
      »Moment mal! Zur Porte d’Italie nach rechts oder nach

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